M: Von Schuldgefühlen eingenommen

„Möchten Sie noch etwas Wasser?“, fragte die Bedienung lächelnd. Es war ein einladendes Lächeln. Eines, das in der Gastronomie als Einstellungskriterium verwendete. Dennoch kam Jane nicht umhin, es zu verachten.

Es war nur eine geschickte Lüge.

„Nein, danke“, erwiderte sie höflich und wies auf ihr noch volles Glas.

Erst als sie wieder allein war, schaute sie prüfend durch das Café: Zwei Gäste saßen am Tresen, ein weiterer am Fenster. Dazu noch die Bedienung und jemand in der Küche. Übersichtlich. Nun, es war immerhin ein ruhiger Samstagmorgen in Centy. Was hatte sie erwartet?

Und trotzdem war Jane gekommen.

Der Katzensprung war das Mindeste – selbst mit wachsendem Bauch. Sie musste ja nur die Treppen runterrutschen und über die Straße schlendern. Einzig, um die Angestellte zu treffen, die sich zu ihrer Schicht verspätete.

Mortes hatte seine Schwester doch immer aus allem rausgehalten!

Nachdenklich drehte Jane das Glas zwischen den Händen. Sie beobachtete, wie die Flüssigkeit umherschwappte. Der Becher fühlte sich so schön kalt an. Aber sie durfte es nicht trinken. Nein. Sie befand sich immer noch in einem billigen Café. Sie wusste nicht, wo das Getränk herkam oder wie es gar in der Küche aussah. Daher würde sie den Ort mit argwöhnischer Vorsicht genießen.

Nur vorsichtig lebte man sicher.

Klirrend wurde die Tür des Lokals aufgestoßen. Hastige Entschuldigungen folgten. Dann harsche Worte. Jemand hustete.

Jane riskierte einen Blick zu den Kassen. Dort stand sie: Kurze schwarze Haare. Mortes Augen. Aber dasselbe Gesicht wie Jack … Nein. Wie Jorah. So hatten die Zeitungen ihren einstigen Freund genannt. Jorah Myles. Ein bewaffneter Junkie, der während der Untersuchungshaft verstarb.

Das war zumindest in den Medien verbreitet worden.

Tabitha war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten!

„Ich habe schon seit zehn Minuten Feierabend“, beschwerte sich die andere Bedienung harsch.

„Ich weiß. Entschuldige. Kommt nicht wieder vor. Der Bus-“

„Ja, ja. Mach dich einfach an die Arbeit, klar?“

Klirren.

Jane schloss die Augen.

Drei Gäste, eine Küchenhilfe und ihre Zielperson. Die Leute am Tresen hatten nichts zum Essen bestellt. Bestimmt würden sie bald gehen. Der Mann am Fenster hatte seine Spiegeleier aber erst bekommen. Und sie wusste nicht, wie viele Leute noch kämen. Jetzt wäre der beste Zeitpunkt, oder?

Ehe Tabitha sich eine Ausrede einfallen lassen konnte …

Stumm hob Jane den Arm. Sie drehte sich nicht um. Sie blieb geduldig und wartete, bis sich die Schritte näherten.

„Verzeihung, komme scho-“

Tabitha stoppte so abrupt, dass sich die Schwangere fast schuldig fühlte. Fast. Stattdessen gab sie sich unwissend und blieb mit dem Finger über irgendeinem Punkt im Menü hängen.

„Wie gut ist das Omelette?“

Stille. Ob sie die junge Frau überschätzte? Vielleicht sah sie nur Gespenster? Nein. Er hatte Tabitha unbedingt aus allem Horror raushalten wollen. Deswegen war sie nach Havbolt gezogen. Havbolt!

Nicht Centy.

„Sollte ich doch etwas anderes nehmen?“, fragte Jane nachdenklich und studierte die Rückseite der Karte.

Endlich kam Bewegung in Tabitha. Langsam ließ sie sich gegenüber von ihr nieder. Sie legte die Hände auf den Tisch. Direkt neben den Streubechern. Die Beine blieben nebeneinander. Es wirkte, als wäre sie jederzeit bereit, Jane zu blenden und die Flucht zu ergreifen.

Mortes musste ihr das Verhalten eingetrichtert haben. Er oder … Jorah.

„Lisa meinte schon, dass du bestimmt auf mich zukommst, weil du meinen Bruder kennst. Aber ich hatte eigentlich gehofft, dass ich mich nicht ganz so dumm angestellt habe“, gab sie leise von sich.

Lisa? Ihre Lisa? Es würde aufgehen … Aber ob Mortes das seiner Frau durchgehen lassen würde, wäre die nächste Frage. In seinen Augen war sie immer noch ein kleines Mädchen!

Und niemand mit dem Jane gerechnet hätte, hätte sie die andere nicht zufällig auf dem Weg zur Arbeit gesehen.

„Weiß dein Bruder von deinem … Ausflug?“, gab sie daher leise zu bedenken.

„Es sind Semesterferien“, Tabitha zuckte mit den Schultern, „Ich habe noch drei Wochen, ehe ich wieder in Havbolt sein muss. In der Zwischenzeit jobbe ich mich halt durchs Leben. Warum sollte ich ihm also von jedem Minijob erzählen? Lisa meinte, dass du dich nicht zurückmeldest und sie sich sorgt. Ich solle nur mal nach dir sehen, weißt du?“

Jane bewunderte wie gelassen die junge Frau blieb. Dabei war sie in Merichaven aufgewachsen. Sie war dort zur Schule gegangen. Sie hatte den Horror der Seitenstraßen erlebt!

Und dennoch konnte sie nun ein normales Leben genießen.

Vorsichtig strich Janes Hand über ihren Bauch. Über die Wölbung, die sich mit jeder Bewegung der Ungeborenen dehnte.

Als sie wieder aufschaute, konnte sie erst nur Jack sehen. Dieser liebevolle Dussel, der ihr stets aus dem Schlamassel geholfen hatte. Bis er dabei von der Polizei erwischt wurde. Bis ihr Vater ihn umbringen ließ, um sein Schweigen zu sichern. Bis sie tagelang in ihr Kissen geheult hatte, weil alles ihr Fehler gewesen war …

Egal, wie schlecht es ihr ging, Tabitha hatte hier nichts verloren!

„Dann hat Lisa dich her gelotst, ohne deinem Bruder Bescheid zu sagen?“, erkundigte sie sich harsch, „Und du meinst, dass das gut endet?“

„Ich bin kein Baby me-“

„Aber du bist seine Familie! Meinst du wirklich, er will dich so nah bei einer Sekte wissen? Du wohnst direkt neben der Brücke zu den Verrückten, Tabitha!“

Die Gäste am Tresen schreckten auf und starrten zu ihnen herüber. Dann rückten sie näher aneinander, um zu tuscheln.

„Jane! Bitte … Es war halt nirgends etwas Vernünftiges frei. Ich musste-“

„Ihm Sorgen bereiten?“, behauptete Jane streng, „Was kannst du schon gro´ß erreichen, hm? Nach mir sehen? Ist passiert. Nun pack deine Koffer und verschwinde! Oder muss ich erst nachhelfen?!“

Tabitha blieben jegliche Worte im Halse stecken. Stumm öffnete sie den Mund, ehe sie ihn kopfschüttelnd wieder schloss. Dann schlürfte sie zu den Kassen und meldete sich in der Küche krank.

Schimpfend trat ein alter Koch heraus. Er schrie Tabitha vor allen an. Nannte sie eine Zeitverschwendung und dass sie nun sehen solle, wo sie bliebe. Er könne sie nicht mehr gebrauchen!

Am liebsten wollte Jane eingreifen, als sie die Tränen in den Augen der jungen Frau bemerkte. Sie war aus so weichem Holz geschnitzt. So sanftmütig.

Aber wie sonst sollte Tabitha lernen, dass das hier nicht der richtige Ort für ein Mädchen wie sie war?

Erst als sich die Atmosphäre wieder entspannt hatte, legte sie stumm ein paar Münzen auf den Tisch. Mittlerweile waren die Gäste am Tresen gegangen und stattdessen stopften sich zehn fremde Leute an den hohen Tisch. Zwölf weitere nahmen die kleinen Tischgruppen ein. Alle redeten durcheinander. Alle beschwerten sich über den langsamen Service. Über kalten Kaffee …

Jane müsste los, sonst würde sich Danni noch sorgen …

Als sie bereits aufstehen wollte, gesellte sich der Gast vom Fenster zu ihr. Stumm klopfte er auf den Tisch. Zweimal. Pause. Zweimal.

Überrascht starrte sie in das unbekannte Gesicht.

„So harsch zu der Schwägerin deiner besten Freundin, Radius?“

Diese Stimme hätte sie überall wiedererkannt!

„Was weißt du schon, Rotten Apple? Ist es dir daheim zu langweilig geworden?“

Lachend schüttelte er den Kopf. Dabei kam sie nicht umhin, seine Verkleidung zu bewundern. Irgendwie hatte er seinen Kopf kantiger geformt. Und älter. Ob das eine Maske war? Bestimmt. Wo sonst kämen all die Falten sonst her? Verdammt! Selbst die Perücke des Glatzkopfes sah so echt aus!

„Wir wissen beide, warum ich hier bin.“

Nickend spielte sie mit ihrem Wasserglas. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihr Vater jemanden herschickte. Dass es allerdings Rotten Apple war …

„Ich kehre nicht zurück. Er braucht es gar nicht erst versuchen.“

Entschlossen umschloss sie das Glas. Es war, als würde sie damit auch an ihrer Entscheidung festhalten. An der Zukunft, die sie sich selbst aufbauen wollte.

Die sie doch nie verdient hätte …

„Klario. Sag es ihm selbst, wenn du ihn siehst. Ich habe keine Lust auf die weite Reise.“

Perplex starrte sie den Verkleidungskünstler an. Rotten Apple. Ein Mann, den sie stets als einen loyalen Gefolgsmann ihres Vaters wahrgenommen hatte. Er hatte für Gemma getäuscht, gestohlen, Morde frisiert!

Und dennoch wandte er sich ab.

„Woher dieser … Sinneswandel?“, hinterfragte Jane vorsichtig.

Rotten Apple rollte seine Schultern zurück und obwohl die Geste viel zu flüssig für sein altes Gesicht aussah, passte es irgendwie. Selbst wenn er seine Rolle nicht spielte, wirkte er authentisch.

„Sinneswandel?“, er lachte leise, „Für dich wäre ich bei Gemma geblieben. Du hast ein Herz. Aber ohne dich? Nein, danke. Was soll ich bei dem Mistkerl, der mich zu dem Mord an meinem besten Kumpel zwingt?“

„Du hast … Jack …?“

Er nickte.

Für einen Moment glaubte Jane, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Erinnerungen kamen ungefragt wieder hoch. Sein Lachen. Die albernen Witze. Das Funkeln in seinen Augen, als sie darauf eingegangen war.

Und das Weihnachtsessen vor all diesen Jahren. Als ihr Vater erklärte, dass Jack sterben musste. Dass es sein eigener Fehler gewesen war. Dass Jack ja gewusst hätte, worauf er sich eingelassen hatte …

„Jack hat sich die Überdosis selbst gegeben, weil er nicht wollte, dass ich es mir anlaste. Deswegen schulde ich ihm was“, murmelte Rotten Apple nun und nickte zur Tür, durch die Tabitha verschwunden war, „Nenne es seinen letzten Wunsch. Eine letzte Hoffnung, in der er euch beide glücklich sehen wollte. Dich und seine kleine Schwester. Nicht sich selbst. Auch nicht Mortes. Dieser könne wohl selbst in der Hölle auf sich aufpassen. Aber bei euch war er sich nicht so sicher. Nicht, solange euer Lächeln nicht eure Augen berührte“, er seufzte, „Von mir erfährt Gemma nichts. Bleib hier oder tauch unter. Ganz wie du willst. Ich erledige den Rest.“

Damit stand er auf und ließ Jane mit den Altlasten ihrer Erinnerungen zurück.

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