M: Zusammenhalt II

Als Diana zurück nach Hause schlich, brannte kein Licht mehr. Haus und Hof lagen in seliger Dunkelheit da. Es wirkte einsam. Verlassen …

Die Lee hatte vier Zigaretten geraucht, ehe ihr davon übel wurde. Ihre Freundin nur zwei. Hustend hatten sie dem Zeug erstmal abgeschworen. Jedoch nahm sie ihre Worte nicht zu ernst. Beim ersten Alkohol war es ähnlich gelaufen …

Schwerfällig schleppte sie sich zum Springseil. Es hing noch immer an der Häuserwand – versteckt in dem Efeu, das unter ihrem Fenster wuchs. Sie begutachtete es einen Moment.

So lange war sie bislang noch nie fort gewesen. Ob jemand ihre Abwesenheit bemerkt hatte? Ob oben ihr Großvater auf sie wartete? Oder noch schlimmer: Ihre Mutter?!

Diana schüttelte die Angst hastig ab und bereute die abrupte Bewegung sofort, denn sogleich verkrampfte sich ihr Magen.

Na super …

Seufzend betrachtete sie die Sterne. Diese funkelnden Lichter. Sie stellte sich vor, dass ihre Großmutter dort oben wäre. Dass die Ältere ihre schützende Hand nach Diana ausstreckte. Dass sie dort oben lächeln würde …

Lächeln … Hatte ihre Großmutter überhaupt einen Grund zum Lächeln? Dianas Großmutter hatte immer für Verständnis plädiert und dennoch hatte das Gezanke angehalten. Stets hatten sich Dianas Eltern mit ihrer Tante und ihrem Onkel gestritten. Immerzu waren sie aneinandergeraten. Es war jedes Mal dasselbe Spiel. Derselbe Machtkampf. Dasselbe dumme Gelaber!

Dumm … Ja. Das alles war so dumm, wurde ihr schlagartig bewusst. Nur wegen dieses Erbschaftsstreits waren sie und Rachel gegeneinander aufgestachelt worden. Ihre Eltern waren an dem ganzen Fiasko schuld. Sie hatten Dianas Großmutter jede Kraft geraubt!

Das Mädchen umklammerte das Springseil. Sie spürte, wie ihre Fingernägel sich ins Fleisch bohrten. Es war ein wohltuender Schmerz. Einer, der sie wieder in die Gegenwart zurückriss.

Langsam atmete sie durch.

Ihr Magen hatte sich wieder gefangen.

Mit geübten Griffen zog Diana sich am Seil hinauf und schwang sich in ihr Zimmer. Eilig orientierte sie sich an den leuchtenden Zahlen ihres Weckers, als ihr die Uhrzeit bewusst wurde.

Kurz nach Mitternacht.

Super! In weniger als sechs Stunden musste sie wieder aufstehen. Das würde ein grandioser Tag werden … nicht.

Im Schutz der Dunkelheit schlüpfte Diana aus ihren Sachen und zog ihren Pyjama an. Sie wollte sich schon ins Bett werfen, doch …

Rachel …

Der Name schlich sich ungefragt in ihren Kopf und unruhig trat Diana wieder ans Fenster. Sie sah zum Zimmer ihrer Cousine zurück. Nicht sicher, was sie erwartete-

Zwei Augen starrten zurück.

Erschrocken wäre Diana beinahe zurück ins Zimmer gesprungen. Sie musste sich zusammenreißen, nicht aufzuschreien. Das hätte ihre Mutter auf den Schirm gerufen und dann hätten sie beide Ärger bekommen. Immerhin sollten sie doch schlafen!

„Du bist noch … wach?“, fragte sie daher etwas dümmlich und setzte sich mit baumelnden Beinen auf die Fensterbank.

Genauso wie Rachel dasaß.

„Konnte nicht schlafen“, flüsterte diese heiser zurück, „Deine Mutter hatte vorhin nochmal Stress gemacht.“

„Ich weiß“, behauptete Diana schulterzuckend.

„Obwohl du nicht da warst?“

Warnend riss sie den Kopf zu Rachel herum, doch diese schien sich nicht darum zu kümmern. Verloren starrte sie in den Himmel. Zu den Sternen.

„Meinst du, Omi beobachtet uns?“

Die Frage traf Diana unvorbereitet. Verdattert starrte sie erneut zu den Lichtern hinauf. Zu diesen weit entfernten Sonnen, die vielleicht schon lange tot waren.

Tot wie ihre Großmutter.

Aber … So heiser wie Rachel klang, wäre das keine hilfreiche Antwort. Also überlegte Diana stattdessen, was sie sich selber wünschte.

„Kommt d‘rauf an. Wenn du daran glaubst, dann ja. Sicherlich. Ich meine … Sie war immer für mi… für uns da. Warum sollte sie nun damit aufhören?“

Rachel lachte leise und eine Welle der Erleichterung machte sich zwischen den Cousinen breit.

„Weißt du noch, wie sie letztes Jahr unsere Eltern zurechtgewiesen hat, weil sie die ganze Zeit unsere Zeugnisse miteinander verglichen hatten? Sie ist richtig laut geworden und mein Vater hat kein Wort mehr herausbekommen. Ich … Ich habe …“

Diana verstand auch so.

„Unsere Eltern sind toll, wenn sie mal die Klappe halten können, oder?“

Erschrocken starrte Rachel sie an. Dann nickte sie zaghaft.

„Das trifft es ziemlich genau auf den Punkt, ja … Ich … Ich wünschte, wir wären einfach nur eine normale Familie. Ohne diese ganzen Vergleiche und Streitigkeiten und überhaupt … Ich möchte kein kompliziertes Leben. Ich möchte einfach nur …“, ihre Stimme verlor sich in der Heiserkeit und Diana konnte den Rest nicht mehr verstehen.

„Eine normale Familie wäre schön … Aber bei unseren Eltern?“

„Dann lass uns später besser sein“, gab Rachel so entschlossen von sich, dass Diana sie mustern musste.

Sie hatte ihre Cousine noch nie so selbstbewusst erlebt!

„Du … du scheinst zu wissen, was du willst …“

„Ja. Du … nicht?“

Diana schüttelte den Kopf und starrte auf ihre Hände. Sie hatte nie darüber nachgedacht, was sie wollte. Immer hatte sie ihre Mutter entscheiden lassen. Oder ihren Vater. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen …

„Ich möchte Erzieherin werden. Und Mama. Eine gute Mama. Von zwei oder drei Kindern. Ich möchte mein Herz an jemanden verlieren, der seines am rechten Fleck hat. Ich möchte hier in Raptioville bleiben und auf Omis Grab aufpassen. Aber … wenn meine Eltern das wüssten …“, sie wurde still.

„Warum erzählst du es dann mir?“, erkundigte sich Diana verblüfft.

„Du meinst, warum erzähle ich es meiner Cousine, die mitten in der Nacht an einem Seil zurück in ihr Zimmer klettert? Diesmal noch nach Pub stinkend?“

Diesmal …

Dieses kleine Wort ließ Diana innehalten.

„Wenn du es schon einmal bemerkt hast, warum hast du nichts gesagt?“

Rachel zuckte mit den Schultern.

„Ich will von dem Erbe nichts wissen. Also darfst du nicht aus dem Rennen fliegen. Sonst muss ich die Verantwortungen übernehmen und ich … Ich will das nicht. Das ist mir eh schon … Es ist mir zu viel … Verstehst du?“, Rachels Körper zuckte zusammen und Schluchzer drangen in Dianas Ohren.

Ehe sie sich besinnen konnte, lief die Ältere zu ihrer Zimmertür. Sie trat auf den Flur, preschte zu Rachel und schloss ihre kleine Cousine in die Arme.

Es fühlte sich richtig an. So richtig und überfällig, dass sie am liebsten gelacht hätte! Rachel war ein so kleines Mädchen, das stets wegen Dianas besserer Noten angeschrien wurde …

Das hatte sie nicht verdient!

„Schon gut, Rachel … Ich pass‘ auf dich auf, ja?“

Bebend brachen die Staudämme, als die Jüngere sich an Diana klammerte. Sie schniefte und erzählte von ihrer Omi. Dass sie die alte Frau vermisse. Dass sie ihre eigenen Eltern für deren Ableben verantwortlich mache. Dass sie sich so allein, so einsam gefühlt habe. Dass sie sich doch bloß jemanden wünsche!

Diana wusste sich bei den Worten kaum noch zu beherrschen. Zittrig hielt sie ihre Cousine fest. Ihre Mutter würde das hier nicht verstehen. Vater, Onkel und Tante auch nicht. Aber das mussten sie auch nicht. Sie mussten es nicht akzeptieren. Denn von heute an, wären nur noch Rachel und ihr Großvater von Bedeutung.

Alle anderen konnten ihr den Buckel runterrutschen!

„Ich pass‘ auf dich auf, Rachel.“

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