B: Lianes erste Freundschaft

„Tschüss!“, rief Liane hastig durchs Haus.

„Soll ich dich nicht noch-“

Geflissentlich ignorierte sie ihren Vater und zog den überraschten Oliver mit sich zur Straße. So sehr sie ihren alten Herren auch liebte, wenn er erstmal Mutterhenne spielen würde, kämen sie garantiert nicht mehr rechtzeitig los!

„Komm schon“, drängte sie – nur um drei Schritte später ihre Richtung zu korrigieren.

Denn Oliver zeigte stumm nach links statt nach rechts.

Nun gut, dachte sich Liane im Stillen. Noch sahen die Straßen für sie alle gleich aus, doch das war sicherlich nur eine Frage der Zeit. Oder eine Frage der Suche. Bis sie die kleinen Unterschiede fand, die diesen Weg von den fünfzig anderen abhoben. Dennoch wirkte es hier so verkehrt.

Nirgendwo lag Müll rum, obwohl es keine öffentliche Mülleimer gab. Alles glänzte. Alles strahlte. Die Gehwege waren doppelt so breit wie alle, die sie bislang kennengelernt hatte. Nicht nur das: Die Wurzeln der Bäume dellten die weißen Steinfliesen gar nicht aus!

Die weißen Steinfliesen …

Weiß wie Schnee?

„Danke“, murmelte sie Oliver zu, während er sie durch die gepflegten Straßen führte. Mittlerweile hatten sie drei Blocks zwischen sich und ihrem neuen Zuhause gebracht, weswegen sie langsam wieder durchatmen konnte.

„Kein Ding“, erwiderte er.

Es fühlte sich falsch an.

Liane presste die Lippen aufeinander.

Ihre Finger juckten. Sie wollte über ihre Zöpfe streichen. Aber zeitgleich wollte sie auch keine Aufmerksamkeit auf die altmodische Frisur lenken. Argh! Warum konnte das Leben nicht einfacher sein!

Ihr Blick huschte über Olivers. Über seine Brille. Seine kurzen dunklen Haare. Sein breiteres Gesicht. Seine leicht abstehenden Ohren.

Auf ihrer alten Schule wäre er sicherlich gehänselt worden. Wenn es auf ihrer neuen nicht geschah … würden die anderen Schüler vielleicht ihre Zöpfe ignorieren? Oder erhoffte sie sich zu viel?

Unsicher wandte sie sich ab und kratzte den spärlichen Mut zusammen, der ihr nach ihrer Spiegelübung noch geblieben war.

„Du … Du musst mich nicht zur Schule bringen, wenn du nicht willst“, flüsterte sie, „Ich meine, es muss doch ein Umweg für dich sein und notfalls können wir auch sagen, dass wir uns unterwegs treffen und sobald wir uns in der Schule sehen, haben wir, technisch gesehen, nicht gelogen. Dann ist doch alles gut. Dann kannst du deine Freunde begleiten und-“, hastig holte sie Luft, als sie ihr ausging.

„Ich hab‘ doch nie behauptet, dass ich dich nicht abholen will“, entgegnete Oliver mit gerunzelter Stirn.

Liane starrte ihn an. Bemerkte, dass ihr davon unwohl wurde. Schaute einem vorbeifahrenden Auto hinterher. Begutachtete dann wieder die Gebäude. Atmete tief durch-

Die Häuser waren hier alle so riesig und sauber und majestätisch. Es ängstigte sie ein wenig. Dennoch wusste sie, dass diese Gegend die beste war, in der sie je gelebt hatte. Das hier war das wohlhabendste und sicherste Viertel ganz Centys! Hier gab es nichts, das ihr Angst machen sollte. Hier war alles in Ordnung. Hier war alles-

Es waren nur Häuser.

„Und dennoch möchtest du es nicht, oder? Ich … Man bemerkt es“, murmelte Liane immer leiser werdend.

Oder spürte nur sie es? Es war dasselbe Gefühl, das ihr auch weißmachte, dass ihr Name nicht Liane war. Dass sie Lilith hieß. Dass ihr Vater …

Nicht ihr Vater …

Ihr Vater war nicht ihr Vater?

Nein. Darüber durfte sie nun nicht nachdenken! Wenn jemand von ihrem Lügendetektor erfuhr, würde man sie für verrückt halten. Und davon hatte sie, weiß Gott, genug ertragen müssen!

„Dad meinte, dass ich etwas auf dich achtgeben solle, ja. Und ja, es ist ein Umweg“, Oliver zuckte mit den Schultern, „Allerdings habe ich eingewilligt.“

Unsicher schaute Liane zu ihm herüber.

„Aber … du wirkst alles andere als begeistert? Und beim Umzug …“

„Nur etwas Stress, weil ich mit meinen Freunden etwas über die Stränge geschlagen bin“, nun taute er langsam auf und ein Lächeln schlich sich über seine Züge, „Ach, was soll’s. Joffrey wollte sich am Alkohol seines Alten versuchen. Da ich mit zwei weiteren Kumpels da war und wir ihn nicht vor’m Krankenhaus bewahrt haben, ist Dad etwas grantig.“

Erschrocken riss Liane den Kopf zu ihm herum: „Geht es ihm-“

„Ja, ja“, wank Oliver direkt ab, „Ist betrunken auf einen Baum geklettert und hat dann den Boden geknutscht. Sein Vater ist der Michel. Der alte Verkehrsminister? Vielleicht hast du’s ja übers Fernsehen mitbekommen. Joffreys Fahrt ins Krankenhaus wurde zumindest im Regionalen übertragen.“

Verdattert starrte Liane ihn an.

Es fühlte sich so seltsam an. So seltsam und normal zugleich. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sich jemand zuletzt so frei mit ihr unterhalten hatte. Jemand, der in ihrem Alter war noch dazu!

Allmählich schlich sich ein Lächeln auf ihre Züge.

„Joffrey, du und deine anderen beiden Kumpels … ihr scheint euch nicht gern an Regeln zu halten, oder?“

Augenblicklich war das Eis gebrochen. Wo sie Oliver erst nur flüchtig kannte, zog er sie nun in sein Leben hinein. Er erzählte von Joffrey und dessen abwesenden Eltern. Von den Brüdern Neal und Mark, die es sich nie nehmen ließen, einige Fahrübungen mit den Autos ihrer Eltern zu veranstalten und deswegen schon einmal bei der Polizei mitfahren durften.

Und von seinen eigenen Fiaskos. Hauptsächlich, weil er mal versucht hatte, die Unterschrift seines Vaters zu fälschen.

Erleichtert lauschte Liane den Erzählungen. Es fühlte sich irgendwie beruhigend an, einfach nur zuzuhören. Ihre Sorgen und Befürchtungen lösten sich langsam in Luft auf. Bis sie sogar schallend loslachen musste, als er von dem Swimmingpool-Ketchup-Desaster mit seinen Freunden berichtete.

„Das Zeug ist direkt in die Reinigungsdrüse gelaufen und hat sich dann extrem schnell im ganzen Becken verteilt! Dad ist ausgerastet!“

Hastig umklammerte Liane ihren Bauch, als er von den Lachern schmerzte. Das war ihr noch nie zuvor passiert, oder? War das ein gutes Zeichen?

„War das Wasser dann ganz rot am Ende?“

„Nicht ganz. Eher so pastellrot. So rosa? Hm …“, offenbarte Oliver, „Sah voll komisch aus und- Da vorne ist die Schule, siehst du?“

Hastig folgte Liane seinem Finger und verdrängte das Bild aus ihrem Kopf.

„Danke fürs Bringen.“

„Ach, Quatsch mit Ketchup!“, er zog sie mit sich, „Ich bring‘ dich noch ins Sekretariat. Da werden die Neulinge immer erwartet.“

Nickend kam Liane mit.

Allerdings hatte sich ihre gute Laune verflüchtigt, als er das Poolwasser beschrieben hatte. Irgendetwas daran wollte Erinnerungen in ihr wecken. Eine kleine Quelle. Ein … Geist? Nein. Es hatte lange … Haare? Schuppen? Wieso verschwamm die Erinnerung schon wieder? Es wirkte wie ein vergessener Traum, der-

Als die Direktorin sie nach ihrem Namen fragte, schlich sich die Antwort nur stockend über ihre Lippen. Stockend und leise.

Erschöpft schloss das Mädchen die Augen.

„Alles gut? Du siehst so erschöpft aus?“

Blinzelnd blickte Liane zu der Frau zurück.

Die Frau, die sie wahrhaftig besorgt ansah.

„Ich … Ich fühle mich nur nicht so gut. Halb so wild.“

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