M: Blühende Hoffnung

„Was machst du da?“

Überrascht sah Sophie zu ihrem jüngeren Bruder auf. Sie hatte nicht erwartet, dass er zu ihr in den Garten kommen würde. Nicht zu dieser Jahreszeit, wo es noch so bitterkalt draußen war. In der Stube warteten immerhin der laufende Fernseher und ein paar Schokoladenkekse auf ihren Tyler!

Und in einem anderen Leben würde sie sich vielleicht dazugesellen …

„Ich pflanze ein paar Blumen. Damit es im Sommer schön aussieht“, erklärte sie ihm und stieß die Schaufel wieder in den Boden, um ein weiteres Loch in den Boden zu stechen.

„Du solltest lieber wieder reinkommen. Ist doch alles viel zu viel Arbeit. Und es ist so kalt hier!“, empört umarmte er seine nackten Arme und lachend warf Sophie ihm ihren Schal mit der sauberen Hand entgegen.

Sie hatte ihn schon vor einer Weile ausgezogen. Bei so vielen Blumenzwiebeln, die sie gesetzt hatte, war sie selbst bei diesen Temperaturen schnell ins Schwitzen gekommen.

„Aber dann wird es doch nicht schön aussehen. Ohne ein paar Farben wird der restliche Frühling und Sommer total öde vorüberziehen“, unbeirrt setzte sie die nächste Knolle in die Erde, „Lieber heute etwas tun, um morgen die Füße hochzulegen, verstehst du?“

Und bloß nicht ins Haus zurück. Nicht ins Haus. Nicht ins Haus …

Etwas in Sophie verkrampfte sich bei den Gedanken. Sie wusste genau, warum sie den Abstand suchte. Und sie wusste theoretisch sogar, was sie tun musste, damit es sich wieder besserte nur …

Sie wollte sich nicht mit ihrem Zwilling streiten.

„Marie meint, du wärst dumm hier rumzukrabbeln“, bemerkte Tyler nun.

Wäre Sophie nicht schlimmere Aussagen von ihrer Schwester gewöhnt gewesen, wäre sie zusammengezuckt. So schüttelte sie die Worte jedoch nur unbekümmert ab. Sie bedeuteten ihr nichts, solange …

„Und? Glaubst du auch, dass ich dumm bin?“, fragte sie ihren Bruder offen heraus.

Er kniete sich neben sie und wickelte dabei den Schal um sein Gesicht. Sie hörte ihn einatmen. Oder riechen? Ja. Er roch an ihrem Schal. Tyler wurde nie müde, sie zu überraschen.

„Nein. Du bist vieles aber nicht dumm“, erklärte er, „Du … du kannst nicht dumm sein …“

Erleichterung durchflutete sie, obwohl sie seiner letzten Aussage nicht ganz zustimmte. Denn sie wusste, dass sie sehr wohl dumm sein konnte. Dass sie Marie so viel durchgehen ließ, war der beste Beweis!

„Es ist trotzdem kalt hier“, murmelte Tyler nun wieder, „Musst du das denn wirklich heute machen? Reichen nicht … So ein paar Blumen aus einem Laden aus? Der an der Hauptstraße hat doch so schöne!“

Sanft klopfte Sophie die Erde um die Blumenzwiebel fest. Sie lehnte sich zurück und starrte in den grauen Himmel hinauf.

„Der Laden, der nur Schnittblumen verkauft?“

„Genau! Wir holen morgen einfach solche Blumen. Dann kannst du dir die ganze Arbeit sparen und nun mit mir reinkommen! Drinnen läuft gleich die Show mit dem Detektiv, der alle Täter überführt! Gestern hat er einer bösen Frau das Handwerk gelegt, indem er ihr eine Falle gestellt hatte, weißt du?“, begeistert sprang Tyler auf, „Na komm schon! Das musst du sehen!“

Vor Sophies innerem Auge sah sie wieder die alte Dame. Die, die Marie und sie früher betreut hatte. Sie hatte keine Schnittblumen gewollt. Sie hatte es ja nicht einmal gemocht, wenn jemand Wildblumen pflückte. Nein. Sie war immer so streng gewesen, denn …

„Die Schnittblumen liegen doch eh nächste Woche im Müll“, flüsterte sie traurig.

„Dann holen wir eben neue. So schwer kann das ja nicht sein“, nickend stolzierte Tyler nun vor ihr auf und ab, „Außerdem sieht es dann das ganze Jahr über viel schöner aus. Von heute bis in den Winter! Keine matschige Erde, keine Gartenarbeit, kein Gießen!“

Nachdenklich malte Sophie mit ihrer eh schon dreckigen Hand ein paar Kreise auf den Boden. Sie spürte die Kälte unter ihren Fingern. Sie war nicht so stark, wie der eisige Wind, der gelegentlich aufkam und unter ihr Shirt schlüpfte. Normalerweise wäre sie mit ihrer Jacke rausgegangen und hätte sie bei der Gartenarbeit offen getragen. Nur …

Ihre Jacke war in der Wäsche. Marie hatte auf ihr rumgemalt. Sie hatte Dinge raufgeschmiert. Hauptsächlich Beleidigungen und irgendwelche dubiosen Skizzen. Solange das Kleidungsstück nicht sauber wäre, müsste sie darauf dankend verzichten.

Sophie schüttelte ihre tristen Gedanken ab und lächelte Tyler an. Er musste die Ausmaße des Hasses nicht kennenlernen. Zumindest jetzt noch nicht. Er war ja noch ein kleiner Junge. Ein so kleiner und unschuldiger Junge, der erst seit diesem Jahr in die Schule ging!

Der Ernst des Lebens käme früh genug.

„Aber immer wieder neue Blumen zu holen, um sie dann die Köpfe einknicken zu lassen … Ist das nicht noch trauriger, als einfach nur einen Tag zu arbeiten? Vielleicht möchtest du mir ja lieber mit den Pflanzen helfen? Dann sind wir schneller wieder drinnen und können uns deine Serie ansehen?“

Nachdenklich blieb er stehen und neigte den Kopf zur Seite: „Also: Ich helfe dir und du kommst dann ganz schnell wieder mit rein?“

Sophie wollte zwar eigentlich nicht wieder ins Haus zurück, aber wenn sie ihrem Bruder etwas dadurch mit auf den Weg geben könnte …

„Gern. Wir pflanzen die Blumen und schauen jeden Tag nach, wie weit sie gewachsen sind, in Ordnung? Und du darfst dann mit raten, in welchen Farben sie blühen! Aber wir müssen uns jeden Tag um sie kümmern, sonst kommt nichts“, erklärte sie noch einmal lächelnd.

Eines Tages könnte er die Vergeudung von Schnittblumen hoffentlich auch ohne ihre Hilfe erkennen, dachte Sophie im Stillen. Vielleicht würde er ihr Gespräch vergessen … Oder er würde sich erst daran erinnern, wenn er schon erwachsen wäre?

Wie es auch kommen mochte, für den Moment ging Tyler auf ihren Vorschlag unbekümmert ein. Und während die Wochen ins Land strichen fand Sophie immer häufiger ein Lächeln auf seinem Gesicht. Es war fantastisch, wie sehr sich der Junge über die sprießenden Blumen freuen konnte! Jedes neue Blatt wurde nach der Schule begrüßt. Oder sogar davor, wenn es ihm morgens verschlafen auffiel!

Vorsichtig spähte sie zu Marie rüber. Obwohl ihre Schwester wieder so garstig in der Schule gewesen war, tanzte sie daheim um die frischen Sprösslinge herum, um ja keinen zu zertreten. Es gab Sophie Hoffnung. Denn vielleicht, vielleicht, könnte sie eines Tages wieder einen besseren Draht zu ihrem Zwilling haben.

Sie hoffte es so inständig …

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