
Mr. Michels war ein genervter, aber effizienter Lehrer, der selten seine Geduld präsentierte. Er forderte Shiloh als erstes auf, ihre Tasche auszuhändigen, doch schob Liane ihre dazwischen.
Sicher ignorierte sie den besorgten Blick ihrer Freundin. Was man auch finden würde, würde eben gefunden werden. Es hinauszuzögern brachte nichts.
Griesgrämig öffnete der Lehrer ihre Schultasche. Seine Augen verengten sich. Er schloss die Tasche wieder. Knurrte.
„Dann darfst du Miss Lavendel gleich einmal begleiten, Liane“, bemerkte er.
„Dürfte ich erst erfahren, weswegen?“
Verärgert schüttelte er den Kopf: „Weswegen?“
„Ja“, sie umklammerte ihrem Talisman fester, „Ich möchte-“
„Ach, nun hör schon auf und geh einfach mit! Wir haben keine Zeit für deinen Mist!“, rief Betty von hinten.
Shiloh fauchte etwas zurück. Jemand lachte.
Liane wandte ihren Blick nicht von dem Lehrer ab.
„Ruhe! Ihr-“, endlich blickte Mr. Michels wieder auf sie und reichte ihr ihre Tasche zurück, „Sag du mir doch, warum nicht“, forderte er.
Gelassen zog sie den Reißverschluss zur Seite und achtete dabei darauf, Wunde und Talisman zu verbergen.
Drei Schachteln Zigaretten sahen sie an.
Stumm schüttelte Liane die Rauchstangen hinaus. Sie achtete darauf, die Dinger nicht anzufassen. Nur um sicherzugehen.
Hinter ihr machte Betty bereits ein Fass auf. Wie sie so etwas in die Schule bringen könne? Ob sie nur an Drogen denke? Bestimmt hätte sie deswegen die Schule gewechselt. Wie man sie hier nur annehmen konnte?!
Liane drückte ihren Talisman ganz leicht. Dann bedachte sie die Schachteln nachdenklich. Sie schätzte ihre Größe. Erinnerte sich daran, wie viel Platz sie zuvor in der Tasche gehabt hatte.
Ehe sie alles für die erste Stunde ausgepackt hatte.
„Wir müssen das nicht hier besprechen. Du kannst dich oben rechtfertigen“, mischte sich nun Miss Lavendel ein.
„Wieso rechtfertigen? Es sind ja nicht meine“, entgegnete Liane lächelnd.
Die Frau runzelte die Stirn.
Mr. Michels schien jedoch nichts davon hören zu wollen.
„Was soll das?! Liane, du wirst dein Zeug auf der Stelle zusammenschaben und Miss Lavendel ins Sekretariat folgen! Ich habe keine Zeit für dumme Lügen!“
„Auch nicht, wenn wir in einer stehen?“, erwiderte sie sicher.
Er wirkte irritiert. Dennoch schüttelte er den Kopf. Er verschränkte die Arme. Öffnete den Mund-
„Miss Lavendel?“, wandte sich Liane an die Sekretärin, ehe der Lehrer sie abwürgen konnte, „Könnten Sie mir zwei Gefallen tun? Ich bräuchte nur Ihre Meinung und Ihre Hände.“
Die Frau trat näher. Sie trug stets dieses freundliche Gesicht. Selbst jetzt, wo die Zigaretten gut sichtbar auf dem Tisch lagen, wirkte sie aufgeschlossen.
Nein. Eher gutmütig.
„Ja?“
Noch einmal schätzte Liane die Größe ihrer Tasche ab. Dann nickte sie.
„Die Schachteln sehen gut aus, oder? Nicht geknickt oder gequetscht?“, fragte sie die Sekretärin.
„Was soll der Unfug? Stell dich doch endlich deinem Blödsinn!“, schnauzte Betty von hinten.
Aber Liane konnte Unruhe in der Stimme vernehmen.
Unruhe, die Miss Lavendels Zustimmung fast übertönte.
„Ich trage weder eine Jacke noch eine weitere Tasche. Wenn es also meine Zigaretten wären, dann muss zuvor alles in diese eine Tasche gepasst haben, oder? Könnten Sie bitte all meine Schulsachen und diese Schachteln zurückpacken? Ohne letztere zu knicken?“, bat sie.
Nun runzelte selbst der Lehrer die Stirn. Er starrte auf das dicke Lehrbuch, das er stets verwendete. So ein harter Einband mit fast fünfhundert Seiten. Dann blickte er auf ihr Federmäppchen und den Block.
Gebannt beobachteten sie, wie die Sekretärin die Schulsachen zuerst in die Tasche quetschte. Eine Schachtel konnte sie daneben noch unterbekommen. Aber die anderen beiden?
„Das passt nicht“, murmelte sie.
Erleichtert schaute Liane auf ihren Talisman. Daneben erblickte sie das Blut. Die rote Flüssigkeit war an ihrem Zeigefinger herabgeflossen. Ob es schon auf den Boden getropft war?
„Vielleicht hat sie den Mist gerade erst bekommen!“, zischte Betty wieder.
„Von wem? Mir?“, mischte sich Shiloh ein, „Klar, in meiner Tasche ist Platz, aber ich kann den Gestank nicht ab. Sorry, not sorry.“
„Aber es hieß, dass eine Schülerin Zigaretten klauen und rauchen würde. Es muss Liane sein. Wir haben die Schachteln ja in ihrer Tasche gefunden!“, murrte Mr. Michels.
„Und rauchen?“, ihre Freundin lachte, „Wie sollte Liane das Zeug überhaupt rauchen, wenn sie kein Feuerzeug hat? Haben Sie ihren Dad getroffen? Der Alte würde sie mit einem Feuerlöscher bewerfen, ehe sie überhaupt ein Feuer entfachen könnte!“
„Sie kann sich eins im Chemieraum mitgehen lassen!“, warf Betty ein.
„Können, ja. Aber Liane bräuchte es in der Tasche, wenn sie rumstinken wollte, oder?“
Die Sekretärin legte die drei Schachteln fein säuberlich vor Liane auf den Tisch. Erst nun bemerkte sie, wie penetrant die Zigaretten rochen. Dabei waren sie noch eingepackt! Es war genauso, wie Shiloh gesagt hatte. Sie stanken.
Moment. Das war’s!
„Miss Lavendel?“, Liane ignorierte die Kommentare der Klassenkameraden, die sich mit einmischten. Lieber wollte sie den Unfug direkt aufklären, damit er keine weiteren Kreise ziehen konnte. Sie wollte jetzt damit abschließen!
„Ja?“
„Die Schachteln riechen wirklich ziemlich streng. Wenn es Shilohs oder meine wären, müssten unsere Taschen doch den Geruch angenommen haben, oder?“, sie sprach so leise, dass weder Betty noch Mr. Michels sie hören konnten.
Aber die Sekretärin verstand sofort. Still hob sie Lianes Tasche hoch. Es sah so aus, als würde sie den Stoff von allen Seiten betrachten – hätte ihre Nase nicht gezuckt. Wortlos nahm sie sich auch Shilohs. Erst wollte das andere Mädchen protestieren, aber Liane hielt sie zurück.
Miss Lavendel nickte: „Sollten wir bei einer Taschenkontrolle nicht lieber alle Taschen kontrollieren, Daniel? Nur um sicherzugehen?“
Der Lehrer stockte, als sie ihn vor der Klasse mit seinem Vornamen ansprach.
„Aber wir haben doch alles gefunden?“
„Woher weißt du das, Daniel?“
„Na, weil … Ich meine …“, er runzelte die Stirn.
„Betty spricht sich doch am lautesten gegen Liane aus. Könnten Sie nicht mit ihrer Tasche weitermachen?“, schlug Shiloh direkt vor.
„Meiner? Warum sollte ich meine Privatsphäre wegen eurer abscheulichen Hobbies offenlegen?!“, beschwerte sich das Mädchen sogleich.
Zum ersten Mal drehte Liane sich um. Sie schaute erst Betty an – dann das Mädchen am anderen Ende des Raumes.
Tina sah bleich aus. Sie wirkte zittrig. Fürchtete sie sich, dass sie mit aufflog? Nein. Ihr Blick galt stets Betty. Als wollte sie sich vor ihr verstecken.
„Keine Sorge, das dauert nicht lange“, entgegnete Miss Lavendel lächelnd und forderte die Tasche der Schimpfenden ein.
„Das- Ich muss mir- Also-“, stockend wandte sich das Mädchen nach Tina um und sofort zuckte das ohnehin schon blasse Mädchen zusammen.
„Hasst du mich so sehr, Betty?“
Die Worte sprangen zügig über Lianes Lippen. Sie waren nur als Ablenkung gedacht. Damit Tina eine Pause bekam. Damit Betty sie nicht noch weiter in das Chaos zerren konnte!
Dass ihr die Abscheu dadurch ins Gesicht sprang, war unerwartet.
„Du bist eine Succubus!“, zischte Betty und lehnte sich über den Tisch, „Du gehörst in die tiefsten Furchen der Hölle!“
Hölle.
Das Wort echote durch Lianes Gedanken. War sie schon einmal damit beschimpft worden? Ja, oder? Von wem? Wann? Weswege-
„Nun, damit müsstest du uns wohl ins Sekretariat begleiten“, unterbrach Miss Lavendel, als sie Bettys Tasche an ihren verwirrten Lehrer weiterreichte.
„Bitte?! Da ist nichts Verbotenes drin!“
„Nicht mehr. Aber das Nikotin ist noch deutlich zu riechen. Du darfst dich gerne oben rechtfertigen, ja? Soll ich deine Mutter oder deinen Vater herbestellen?“, offenbarte Miss Lavendel und sammelte die Zigarettenschachteln ein.
„Das ist- Das- Das will mir diese Missgeburt nur unterschieben!“, beschwerte sich das Mädchen schreiend.
Lianes Blick verschwamm für einen Moment. Die Beleidigung hallte durch ihren Kopf. Dann das Flüstern ihrer Klassenkameraden. Alles Worte, die gegen Betty gerichtet waren. Alles Worte, mit denen sie über sie lästerten.
Alles Worte, die mal gegen sie gerichtet waren.
War es noch auf der alten Schule gewesen? Nein. Davor, oder? Damals hatte jemand sie vor dem Fundament des Hasses gewarnt.
Was hatte Chemy nochmal gesagt?
„Ich schiebe dir nichts unter“, sprach sie still, „Du hasst mich. Das ist in Ordnung. Es ist deine Entscheidung. Aber wenn du deine Zukunft auf dem Fundament des Hasses aufbaust, bricht die Welt um dich herum zusammen und die Einsamkeit tanzt durch deinen Hof“, gab sie grob wider.
„Was für ein Scheiß!“, zischte Betty, ehe sie Miss Lavendel folgte.
Erschöpft sackte Liane auf ihrem Stuhl zusammen. Sie blickte auf ihren Talisman. Auf das Blut.
Zittrig kramte sie ein Taschentuch raus.
„Poetisch“, murmelte Shiloh.
„Ehm. Ja“, Mr. Michels blickte nachdenklich auf die geschlossene Tür, ehe er sich ihr zuwandte, „Anscheinend habe ich mich geirrt. Entschuldige, Liane.“
Sie nickte: „Soll ich trotzdem ins Sekretariat?“
„Lieber nicht“, er seufzte, „Miss Lavendel weiß, was sie tut. Vor allem nach Bettys Verhalten. Wenn sie dich doch noch brauchen sollte, wird sie dich später ausrufen.“