
Als die Dunkelheit endlich von ihr abfiel, befand sich Cindy Lucy in ihrem Zimmer. Hier hatte sie den Großteil ihrer Kindheit verbracht. Der Raum war ihr so vertraut wie ihre eigenen Hände. Sie hatte hier ein riesiges Bett, gewaltige Schränke, hohe Decken, viel Platz um sich zu bewegen, zu tanzen, zu trainieren …
Und dennoch erschien ihr nun alles kleiner. Beengter. Erstickender.
Wie ein Käfig.
Zitternd streckte sie die Hand nach der Zimmerdecke aus. Diese Decke, die mit einem strahlenden Himmel bemalt war. Ein Himmel, der dem echten keine Konkurrenz machte. Der viel zu platt wirkte. Viel zu hohl. Er war nicht richtig. Nicht echt.
Nichts fühlte sich mehr echt an!
Mühsam schob sie ihre Decke zurück und setzte sich auf. Sie erwartete schon, ihre Großmutter auf dem Stuhl neben sich zu sehen. Sicherlich würde sie mit Cindy schimpfen wollen. Je mehr Zeit sich das Mädchen zum Aufstehen nahm, desto schlimmer wurde das Gespräch meist und-
Ihre Großmutter war nicht da.
Stattdessen stand dort eine andere Frau. Eine jüngere. Mit blonden Haaren. Brille. Sommersprossen auf der Nase.
„Guten Morgen, werte Dame“, grüßte sie die fremde Frau, „Wie fühlt Ihr Euch?“
„Ich will nach oben“, erklärte Cindy sofort.
Sie musste sich beeilen! Ehe Lucy ihr widersprechen oder ihre Großmutter herkommen konnte. Eine solche Gelegenheit bekam sie vielleicht nie wieder! Wenn sie nicht direkt sagte, was sie jetzt wollte, könnte es auf ewig zu spät sein …
„Der General hat angeordnet, dass Sie-“
„Mir ist egal, was Vater angeordnet hat. Ich kenne dich ja nicht mal! Wo ist meine Großmutter?“, fuhr Cindy sie an.
Stur stand sie auf und verschränkte die Arme ineinander. Sie wusste, dass sie damit gegen ihre Benimmauflagen verstieß. Doch das sollte in Ordnung sein. Die Macian vor ihr war keine von hohem Rang. Sie trug keine Abzeichen, kein Ehrenblüte.
Damit stand Cindy als Generalstochter über ihr.
Das Auge der Frau zuckte genervt. Dennoch hielt sie ruhig ihre Stellung. Was sollte das denn? War sie ein elender Wachhund?
„Die Schwiegermutter des Generals wurde ihrer Aufgaben enthoben und ist auf dem Weg zum Shanai. Ab nun bin ich für Ihre Ausbildung und Sicherheit verantwortlich“, sie neigte den Kopf zum Gruß, „Annett Juliette Schermer.“
Schermer? Dann kam sie aus der Leibwächterfamilie? Hatte man sie hergeholt, um-
Das stille Gähnen ließ Cindy zusammenfahren. Lucy wachte auf! Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Sie musste hier raus. Jetzt!
„Und wenn du eine Flora wärst – ich will nach oben!“, wütend klatschte das Mädchen die Hände in ihre Seiten und augenblicklich kräuselte sich die Luft.
Wie ein Peitschenhieb schlug der Wind aus. Er raste durch das Zimmer. Zerschmetterte Bett und Schränke. Knallte den Tisch gegen eine Wand. Die Lampe flackerte. Blätter stoben auf. Sie wurden von den Böen in Klingen verwandelt und streiften diese Annett an den Armen.
Blutige Striemen blieben zurück. Trotzdem wehrte sich die Frau nicht. Sie blieb nur stur vor Cindy stehen. Wie eine unerschütterliche Mauer, die nichts anderes erwartet hatte.
Was machst du da?!
Lucys Ausruf ließ das Mädchen zusammenzucken. Erschrocken blickte sie zu Boden und sanft legte sich der Wind wieder.
Wir müssen zurück nach oben! Du hast es doch auch gespürt, oder? Lucy! Wir können hier nicht bleiben! Wir müssen zu diesem endlosen Himmel zurück. In dieses Dorf, wo die Nichtmagischen leben und so weit rennen und reisen können und wo-, sie brach ab.
Wie sollte sie es ihrer anderen Seele nur begreiflich machen?
Wir dürfen nicht, Cindy! Bitte. Vater hat schon genug ohne deine komischen Wünsche zu tun und Großmutter wä-
Großmutter? Vater hat Großmutter doch fortgeschickt! Nur weil sie uns den Himmel gezeigt hat!
Stille. Diesmal brauchte ihre andere Seele einen Augenblick, um die Worte zu verarbeiten. Unsicherheit schlug ihr entgegen. Unsicherheit und … Angst?
Das weißt du nicht … Das …, Zweifel mischten sich in Lucys Worte, ehe sie Annett bemerkte, Wer ist sie?
Unsere neue Großmutter, erklärte Cindy unbeeindruckt.
Bitte?
Sie soll uns unterrichten und auf uns aufpassen. So wie Großmütterchen halt.
Aber sie ist nicht Großmutter!
Sag bloß, du willst Vater mal die Stirn bieten?
Ich …
„Werte Dame, ich muss Sie bitten, solche Ausbrüche in Zukunft besser zu kontrollieren“, durchschnitt Annett ihre innere Unterhaltung, „Ich habe die strikte Anweisung, dass Ihre Windkontrolle einzigartig sein muss, wenn Sie wieder nach oben möchten“, mit einer Handbewegung erweckte sie das Holz in den kaputten Möbeln zum Leben.
Äste sprossen aus den Gegenständen hervor und setzten alles wieder zusammen. Sie räumten das Zimmer auf, schoben die Papiere zusammen, verknoteten die kaputten Bretter. Als wäre nichts weiter passiert.
Doch die blutigen Arme der Frau bewiesen das Gegenteil.
„Wie bitte?“, verdutzt starrte Cindy diese Annett an.
„Wie ich vorhin schon meinte: Der General hat angeordnet, dass Ihr Affinitätenwandel unter Verschluss bleibt. Er möchte nicht, dass die Elementare des Windes Sie als Konkurrenz sieht. Allerdings ist er auch nicht gewillt, Sie hier einzusperren. Wenn Sie also ins Dorf der Hutan möchten, müssen Sie Ihre Fähigkeiten der Windmanipulation unter Beweis stellen“, führte sie aus.
Verdutzt plumpste das Mädchen auf ihr zerrupftes Bett.
Wir sollen den Wind beherrschen?, fragte sie ihre andere Seele unschlüssig, Das … das …
Deswegen hat er Großmutter weggeschickt, bemerkte Lucy langsam.
Cindy hielt inne.
Ja, ihre Großmutter hatte nicht viel Erfahrung mit dem Wind. Aber dennoch war sie eine gute Lehrerin gewesen. Dass der General sie nun fortgeschickt hatte, musste also noch einen weiteren Grund haben.
Vielleicht sogar denselben, aus dem nun diese Annett auf sie aufpassen sollte!
„Dann werde ich wohl mal üben, oder?“, behauptete das Mädchen, während sie ihr Herz verschloss.
Lucy durfte sich keine Sorgen machen. Und diese komische Macian sollte erst recht nicht erahnen, was in ihnen vor sich ging! Nur so könnte Cindy die Wahrheit aufdecken. Nur so könnte sie herausfinden, was auf sie zukäme!
Und nur so könnte sie das Schlimmste abwenden.