Genießend in der warmen Brise, Sitze ich auf einer grünen Wiese. Über mir aber nicht nur grün. Nein, grün, weiß und pink – Seht nur flink! Seht ihr es blüh’n?
Der Wind umspielt, Die Blüten so lieb, Er säuselt und zieht, Er ist ein Dieb!
Ein Dieb, der die Farben verweht, Der sie als Regen hinabfegt! Ein Regen aus Schönheit, Ein Regen der Sanftheit. Ein Regen der Verlogenheit?
Blütenblätter, Blumen, Knospen – Einst sind sie an Ästen gesprossen, Nun am Boden ergossen Oder eher vergossen?
Der Dieb gibt sich herzlich. Der Dieb gibt sich lieblich. Doch ändert er sich?
Er tanzt durch die Blätter, Verzaubert das Wetter, Spielt Lieder über das Leben, Predigt das Geben. Ich hör ihn nur reden!
Ich blicke mich um, Verzweifle stumm.
Um uns ist ein Meer aus purer Schönheit. Um uns ist eine Spur Vergänglichkeit. Um uns sind diese sanften Farben. Die just hier starben.
Sobald der Unterricht für beendet erklärt wurde, warf Cindy erleichtert ihr Schulzeug in die Tasche. Das war die reinste Qual gewesen! Hinzu kam, dass die beiden hinter ihr immer noch über die Neue tuschelten. Durch ihre Windaffinität hörte sie jedes Wort! Reichte es nicht mal? Maggie, Maggie, Maggie sagten sie ständig. Dabei war die Wortmeldung der Stillen schon vor drei Stunden gewesen!
Genervt hob sie das Buch auf, das die Öffnung ihrer Tasche verfehlt hatte. Auch das noch. Heute war kein guter Tag. Sie musste sich besser zusammenreißen. Ja. Sonst würde ihr noch ein Unfall passieren. Ruhig bleiben. Ruhig.
Wieder fiel der Name Maggie.
Seufzend schloss Cindy die Augen und atmete kurz durch. Sie hörte, wie der Taschenrechner auf zwei Beinen überlegte, zu den älteren Waisen zu gehen. Immerhin hätte der eine sie die ersten Wochen jeden Tag bis zu ihrem Platz gebracht. Die Elternlosen standen füreinander ein. Wenn jemand aus dem Dorf Hilfe brauchte, war ein guter Draht zu der schrägen Familie stets hilfreich. Irgendwie kamen sie stets mit einem blauen Auge davon oder konnten sogar absurde Alibis liefern.
Eigentlich hatte sie das Waisenhaus nie gekümmert, aber wenn sie nicht mehr unter die Erde zurück wollte … Wenn sie aus der Welt der Macian verschwinden wollte … Moment. Wollte sie das?
In ihren Gedanken vertieft, lief sie fast in die Neue, die vor ihrem Tisch wartete. Still wie eine Statur stand sie dort. Eine Hand lag auf ihrem Halstuch. Die andere grub sich in den Saum ihrer Jacke. Die Finger zitterten leicht.
Huh. Sie zitterte? Damit wirkte sie ja fast wie eine Veteranin von daheim! Vor allem, da ihre Augen im Schatten lagen und ihr Mund sich so anspannte …
Entgegen der Erwartung ihres Vaters hatte Cindy selbst nach zwei Jahren noch Spaß am Unterricht der Hutan. Es hörte sich einfach alles zu ulkig an! So vieles, was sie auf natürlichem Wege verstand, mussten die anderen Kinder erklären können. Also. Richtig erklären. Mit Regeln und Gesetzen und Begründungen und manchmal sogar mit Formeln …
Dabei waren die Sachen doch so klar! Luft konnte nicht nichts sein. Und Wasser machte sich halt breiter, wenn es kalt wurde. Das waren simple Fakten für sie. Es war als würde man sie nach der Farbe ihrer Kleidung oder das Geräusch der Kreide an der Tafel fragen. Wieso sollte sie es also erklären?
Vielleicht hatte ihr Vater so gehofft, dass Cindy eine Welt ohne Magie bald langweilen würde. Dann könnte er sie wieder mit offenen Armen begrüßen und unter die Erde ziehen. So müsste er nichts gegen ihre Windaffinität unternehmen. Lucy müsste die Dominanz übernehmen. Sie würden in eine Ausbildung gequetscht werden. In ein fremdes Leben.
Nein. Lieber würde sie die dunklen Flecken in der Hutanwelt akzeptieren! Dann gäbe es eben Hausaufgaben, Vorträge, genervte Lehrer. Alles im Leben hatte eine Schattenseite. Und wenn Cindy eben die albernen Erklärungen lernen musste, um hier reinzupassen – so sei es drum! Das hier war immerhin ein Stück wahre Freiheit: Sie musste sich nicht mehr den ganzen Tag wie ein Brett benehmen. Sie durfte lachen. Weinen. Ja, Lucy beschwerte sich nicht einmal mehr, wenn sie die Zunge rausstreckte oder eine Schnute zog!
Als die Dunkelheit endlich von ihr abfiel, befand sich Cindy Lucy in ihrem Zimmer. Hier hatte sie den Großteil ihrer Kindheit verbracht. Der Raum war ihr so vertraut wie ihre eigenen Hände. Sie hatte hier ein riesiges Bett, gewaltige Schränke, hohe Decken, viel Platz um sich zu bewegen, zu tanzen, zu trainieren …
Und dennoch erschien ihr nun alles kleiner. Beengter. Erstickender.
Wie ein Käfig.
Zitternd streckte sie die Hand nach der Zimmerdecke aus. Diese Decke, die mit einem strahlenden Himmel bemalt war. Ein Himmel, der dem echten keine Konkurrenz machte. Der viel zu platt wirkte. Viel zu hohl. Er war nicht richtig. Nicht echt.
Cindy Lucy war fünf, als ihre Großmutter sie das erste Mal an die Oberfläche führte. Zuvor war die Welt über ihr nur ein Mythos gewesen. Eine weitere Etage in einem Anwesen, das sich fast gänzlich unter der Erde versteckte. Dass der Himmel nicht nur ein Bild an einer Zimmerdecke war, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Bis sie hoch gebracht wurde, um das erste Mal reine Luft zu berühren. Ein Macian brauchte diese Berührung, wurde ihr gesagt. Damit sie den Wind spürten. Damit sie ihn bändigen konnten. Damit sie seine Wildheit verstanden.
Begeistert drehte Cindy sich im Kreis.
„Die Sonne ist so warm“, verlor sie ihre Worte in die Welt – denn heute echoten sie nicht zurück.