B: Ursachensuche

Die Bilder der Zukunft wurden mit jedem Mal verschwommener. Sie schwankten zu sehr zwischen verschiedenen Versionen: Versionen, in denen Leute starben. In denen sie überlebten. In denen sie depressiv wurden. In denen sie sich abwandten und sich wieder vertrugen …

Dabei hatte Chem Wak gehofft, dass sein Brief eine friedliche Zukunft stabilisieren würde!

Seufzend massierte er sich die Schläfen und wog alle Möglichkeiten erneut ab. In keiner schien Liliths Stiefvater noch gewaltsam sterben zu müssen. Gut. Damit konnte er ihr diese Trauer wohl ersparen. Aber als Kehrseite würde ihn der Mann daran hindern, mit ihr in Kontakt zu treten.

Eher würde ihr Stiefvater sie irgendwo einweisen lassen, als ihre Erinnerungen zu unterstützen.

Nachdenklich schaute er durch die getönten Scheiben zu dem großen Haus herüber. Er ignorierte, wie Mr. Brume ihn beobachtete. Stattdessen setzte sich Chem Wak ein neues Vorhaben in den Kopf. Eine Absicht, die er sich selbst einbrannte, ehe seine Welt ins Schwanken geriet. Alles drehte sich. Stimmen verdrehten sich. Gefühle purzelten durch ihn hindurch-

Dann befand er sich in seinem Büro.

„Egal, wie viel Sie mir zahlen, ich kann so nicht mehr weitermachen! Ich muss auch für meine Tochter da sein können, Mr. Belial!“, schrie Liliths Stiefvater ihm gerade entgegen.

Chem Wak rollte die Schultern zurück. Hinter dem Mann machte sich Mr. Brume ganz klein. Das Gespräch erschien ihm unangenehm zu sein. War es das erste dieser Art? Nein. Andere hatten stattgefunden. Ähnliche. Dennoch war dieses hier anders.

„Bei allem Respekt – Sie haben den Vertrag mit all seinen Vorzügen und Verpflichtungen unterschrieben. Ich erwarte, dass Sie fehlerfreie Arbeit leisten“, hörte er sich streng erwidern.

 „Ach ja? Dann stalken Sie meine Kleine während meiner Arbeitszeiten auch nicht? Oder bilde ich mir nur ein, dass Sie sich unangemessen einer Minderjährigen nähern?!“

Mr. Brume zuckte zusammen.

Also doch. Auch in dieser Version würde er Chem Wak verraten. Überrascht war er nach den letzten drei Möglichkeiten nicht mehr. Trotzdem fraßen sich die Schuldgefühle in ihn herein. Denn so geschockt und angewidert er sich auch fühlte, so quälend war die Gerechtigkeit dahinter.

Immerhin war er doch der größte Verräter.

Eilig schüttelte er die Vision ab und befand sich wieder auf dem Rücksitz seiner Limousine. Sein Fahrer begutachtete ihn durch den Rückspiegel. Als sich ihre Blicke kreuzten, wandte er sich eilig ab und trommelte auf dem Lenkrad herum.

Ob die Unruhe von dem beauftragten Einbruch kam? Ihr Kontakt hatte die Bilder besorgt und den Brief dagelassen. Aber sie war auch gesehen worden. Sie hatte gestanden, dass sie versehentlich einen Blumentopf um gerempelt hätte und dass eines der Mädchen sie auf ihrer Flucht bemerkt hätte!

Vielleicht gingen Mr. Brume die Methoden zu weit?

Chem Wak griff nach der Mappe neben sich und blätterte durch die geklauten Bilder. Er erkannte jedes der Wesen wieder. Sie alle waren seine Freunde gewesen. Und hier, auf dem Papier, wirkten sie nach Jahren endlich alle wieder so lebendig, so friedlich!

Bei dem Bild seines engsten Freundes hielt er inne.

Ob dieser ihm je verzeihen könnte?

Erschöpft schloss er die Augen. Die Zeit unter den Menschen laugte ihn aus. Von Tag zu Tag viel es ihm schwieriger, richtig und falsch voneinander zu unterscheiden. Einst war es ihm einfach gefallen. Er hatte an einer Zukunft festgehalten und an den vorhergesehenen Ereignissen profitiert, sobald diese eintrafen. Aber nun?

Er versuchte die Zukunft aktiv nach seinen Wünschen zu gestalten!

Daheim hätte er das niemals in Erwägung gezogen …

Erneut blickte er zu Liliths Fenster herüber. Es war leicht zu finden. Noch immer brannte dort Licht. Ob sie überhaupt schlafen konnte? Oder unterhielt sie sich noch mit ihrer Freundin?

Eine Bewegung aus den Augenwinkeln ließ ihn innehalten. Er gab sich ignorant, ging stattdessen die letzte Vision noch einmal im Kopf durch. Genauso wie die vorherige und die davor.

Sie alle hatten das Misstrauen seines Fahrers gemein.

Das war vor heute nicht vorgekommen. Es musste eine Konsequenz sein. Aber wovon? Was war die Ursache?

„Woran denken Sie?“, fragte er sanfter als sonst.

„Ver- Verzeihung?“, fragte Mr. Brume stotternd.

„Woran denken Sie?“, wiederholte Chem Wak ruhiger, „Glauben Sie, dass ich zu weit gegangen bin? Bitte. Seien Sie ehrlich zu mir.“

Schweigen. Gut. Das bedeutete, dass der Mann in Ruhe nachdachte.

„Ich … bei allem Respekt, es steht mir nicht zu-“

„Würde es Ihnen nicht zustehen, hätte ich Sie nicht damit behelligt“, unterbrach er seinen Angestellten entschlossen.

„Ich … Also … Sie haben die Einbrecherin gesehen … Meinen Sie nicht, dass das vielleicht ein wenig zu viel des Guten war?“, gab dieser überaus vorsichtig von sich, „Und … Was ich meine … Also-“, er biss sich auf die Zunge.

„Mr. Brume, drehen Sie sich um und sagen Sie mir, was in Ihrem Kopf vor sich geht. Irgendetwas scheint sie ja zu beschäftigen.“

Es dauerte einige Momente, ehe der Mann sich seitlich auf den Fahrersitz setzte. Unruhig lockerte er seinen Kragen, ehe er das Wort ergriff.

„Oliver … Er macht sich Sorgen um Liane. Und … solange Sie mich anhalten, rechtliche Grenzen zu ignorieren … Was, wenn es im Haus zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre? Die Mädchen hätten verletzt werden können. Was hätte ich Oliver sagen sollen?“

Die Erkenntnis packte Chem Wak so sprunghaft, dass er zusammenzuckte.

Ja. Auch Mr. Brume war an erster Stelle ein Vater. Natürlich sorgte er sich um sein Kind. Und da sein Sohn mit Lilith befreundet war, war auch er an ihrem Wohl interessiert. Eine Verbrecherin in ihr Haus zu schicken, war ihm da gewiss nicht geheuer. Vor allem, wenn er das für sich behalten sollte …

War das die eigentliche Ursache? Der Grund, warum er Liliths Stiefvater etwas verraten würde? Es würde passen. Es könnte durchaus dazu führen, dass dieser kündigen wolle. Dann könnte Chem Wak Lilith nicht mehr erreichen. Sie würden den Sprung verpassen. Sie würden hier wieder feststecken und –

Nein. Das durfte er nicht zulassen. Er musste sich Mr. Brumes Treue sichern. Nur so könnte er Lilith über Oliver im Notfall erreichen!

„Daran hatte ich nicht gedacht“, reumütig verbarg er sein Gesicht hinter den Händen, „Verzeihung … Wie konnte ich nur …?“, er schüttelte den Kopf, „Bitte lassen Sie nicht zu, dass ich noch einmal eine Dummheit begehe, ja? Bitte …“

Unschlüssig wedelte sein Fahrer mit den Händen. Er stammelte Worte vor sich hin. Wirkte überrascht. Unschlüssig. Überfordert. Wie auch nicht? Chem Wak hatte sich noch nie schwach gegenüber einem Menschen gezeigt. Schon gar nicht seinen Angestellten gegenüber.

„Ich möchte doch nur, dass es meiner Schwester gut geht“, flüsterte er gepeinigt.

„Ja … Verzeihung. Ich … Natürlich, werde ich … Also, wie Sie wünschen …“

„Vielen Dank, Bennett“, er atmete durch, „Wir können dann auch-“

Überrascht hielt er inne. Sie stand an ihrem Fenster. Wie lange stand sie schon dort? Und wieso schaute sie zu ihnen herüber? Wusste sie Bescheid? Ahnte sie, dass er da war? Aber die Scheiben waren doch getönt. Niemand konnte ihn seh-

Ihre Lippen bewegten sich. Es war nur ein Wort. Ein Name. Wäre er ein normaler Mensch gewesen, hätte er nichts verstanden. Aber mit ihrer Kette? Mit dem Anhänger, der den Namen so klar durch seinen Kopf klingen ließ?

Chemy.

„Lichthupe und losfahren, Mr. Brume“, forderte er leise.

Überrascht nickte sein Fahrer und kam der Aufforderung nach. Auch er blickte zu dem Fenster hoch. Nur schien ihm nichts aufzufallen.

„Bitte lassen Sie Oliver täglich von ihr berichten. Ich möchte hier nicht mehr wie ein Ganove herumlungern“, bat Chem Wak erschöpft.

Sofort schien eine Last von dessen Schultern zu fallen.

„Verstanden.“

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..