B: Ein nächtlicher Besucher I

Lachend öffnete Shiloh den Ofen, während Liane die Batterien aus dem schreienden Feuermelder riss. Sie hatten sich so sehr verquatscht, dass die Pizza eher den Bräunungsgrad von Holzkohle erreicht hatte.

„Davon“, ihre Freundin warf das Blech in die Spüle, „ess ich ni-“, das letzte Wort ging in einem Hustenanfall unter.

Eilig öffnete Liane die Fenster und wedelte mit einem Geschirrtuch herum: „Das ist mir noch nie passiert!“

Sonst hatte sie immer neben dem Ofen gewartet. Wieso auch nicht? Wenn ihr Vater da war, kochten sie eher. Und wenn sie allein war, gab es keinen Grund, die Küche zu verlassen.

„Echt?“, krächzend schüttete Shiloh sich etwas Limo in den Rachen, „Wurde mal Zeit!“

„Wurde Zeit?“

„Na, wann wolltest du sonst mal die Küche in die Luft jagen?“

Unwillkürlich zuckte Liane zusammen. Die Erinnerungen schlugen auf sie ein. Sie dachte wieder an den Abend zurück. An den fremden Mann. Wie er sie Lilith genannt hatte und ihr Haus-

„Das bekommt keiner mehr runter. Bestellen wir uns was? Dein Alter ist ja eh noch nicht zurück“, durchbrach ihre Freundin die lodernden Gedanken.

„Ja… Ja! Klar. Gern!“

Liane warf das Handtuch zur Seite und eilte nach nebenan, um ihr Telefon zu holen. Damit hätte sie eine Aufgabe. Dann könnte sie die Erinnerungen ausblenden. Ihr Tag war schon so lang genug gewesen – da konnte sie auf die verwirrenden Erinnerungen auch verzichten.

„Alles gut, Lia?“

„Klar. Was soll nicht gut sein? Du magst die mit Tofu oder? Keine Paprika?“, sprudelten die Worte aus ihr hervor.

„Und du sprichst sehr schnell. Zu schnell. Du- Oh!“, erschrocken schossen Shilohs Hände vor ihren Mund, „Das tut mir so leid! Ich hab‘ das voll vergessen! Euer altes Haus ist ja wirklich in die Luft geflogen! Ich wollte nicht- Also- Ich-“

„Schon gut. War nur ein Haus. Schade war es eher um den Einbrecher. Aber Papa und ich waren nicht drin. Ich war eh … aufgehalten worden … ja. War ein seltsamer Zufall. Tofu und Brokkoli okay?“

„Moment. Vergiss das Essen. Du-“, ihre Freundin umklammerte Lianes Arme, „Du könntest tot sein? Mausetot? Du-“

„Ich lebe“, entschieden drückte sie die Hände von sich, „Es war ein irrer Abend. Fast so wie der heutige Tag. Ich möchte echt nicht darüber nachdenken, ja? Tofu und Brokkoli?“

„Ja-a“, endlich ließ Shiloh von ihr ab, „Keine Tomatensauce.“

Nickend gab Liane alles in das Onlineformular ein und suchte sich selber eine Pizza aus. Nur eine einfache. Sie fand es nicht in sich, das ganze Menü durch zu scrollen. Das wollte sie eh mit Oliver machen. Er hatte ihr den Laden ja auch empfohlen. Oliver …

Super. Nun hingen ihre Gedanken an dem Jungen fest.

Genervt warf sie ihr Handy zur Seite und sackte auf dem Sofa zusammen: „Ich war auf dem Heimweg gewesen, als dieser Kerl ankam“, erzählte sie ganz leise, um nicht mehr über den Schulkameraden nachdenken zu müssen, „Er hatte mit irgendetwas Belanglosem angefangen. Wollte dann eine Wegbeschreibung. Er lief direkt neben mir. Total gesprächig.“

„Igit! Ein Pädophiler?!“

Ein Pädophiler? Nein … Oder? Er hatte nicht so gewirkt. Eher … Aufrichtig besorgt. Und so, wie er mit ihr gesprochen hatte …

„Ich weiß nicht. Ohne ihn hätte mich die Explosion verschlungen. Warum sollte er mir helfen und danach einfach abhauen? Es macht keinen Sinn!“, ihre zitternden Finger strichen über einen ihrer Zöpfe.

Sie hatte nicht schreien wollen.

„Du hast es echt nicht leicht, oder?“, Shiloh lehnte sich an sie.

„Keine Ahnung. Was bedeutet schon leicht?“

„Alkohol vor deinen Eltern verstecken und Kondome im Schulranzen mitschmuggeln?“

Liane riss den Kopf rum.

„Was denn? Ich bin lieber zu vorsichtig, als dass ich mir das Drama antun wollen würde“, ihre Freundin zuckte mit den Schultern.

Da war zwar etwas dran, aber … So prüde, wie sich Shiloh in der Schule gab? Obwohl … Ihre Fragen zu Oliver waren ziemlich detailliert gewesen. Wieso war das Liane vorher nicht aufgefallen?

„Auch wieder wahr“, gab sie sich geschlagen und ließ ihren Kopf gegen Shilohs Schulter plumpsen, „Soll ich mir dann auch eines einpacken? Wegen O-“

„Du hast noch keines?“

„Ehm … Wir sind eh noch nicht zusammen und-“

„Hol dir vier Packungen. Verschiedene. Dann hast du fürs erste ausgesorgt. Ein Set in den Turnbeutel. Eines in die Schultasche. Nochmal eines in so einem Taschentuchspender. Diese Kleinen. Das fällt nicht auf. Eines in die Handtasche … Obwohl. Du hast keine. Dann in die Innenseite deiner Lieblingsjacke. Da, wo dein Handy sonst reinkommt und-“

Es polterte.

Obwohl sich Liane unendlich über die Unterbrechung freute, so fühlte sie auch Unbehagen in sich aufsteigen. Das Geräusch … Es war von oben gekommen.

„Ihr habt keine Katze, oder?“, flüsterte Shiloh und starrte die Decke an.

Sie schüttelte den Kopf.

Stumm wies sie auf das Handy ihrer Freundin und fischte bereits ihr eigenes heran. Sie tippte ihr eine schnelle Nachricht und fürchtete sich vor jeder Tastenvibration, die das Gerät von sich gab.

Sie hörten sich so laut an!

Papa ist das nicht. Er hätte gegrüßt. Wir sind allein.

Shiloh begann zu tippen, als oben etwas knirschte.

Liane hoffte inständig, sich das Geräusch eingebildet zu haben. Doch musste sie sich eines besseren besinnen, als sie die Antwort ihrer Freundin las.

Wir sind NICHT allein. Da ist wer! Messer aus der Küche und Polizei rufen?

Das klang vernünftig. Aber … Sie trauten sich ja nicht einmal zu reden, wie sollten sie da dem Notruf das Problem verdeutlichen?

Ehe sie ihre Gedanken niedertippen konnte, war Shiloh bereits aufgestanden. Sie wies zur Küche. Winkte Liane ungeduldig zu. Es war klar, dass sie kein Nein akzeptierte. Und wenn sie sich mit einer Klinge besser fühlte …

Schluckend stand Liane auf und wollte ihrer Freundin folgen, doch musste sie mitten in der Bewegung innehalten.

Das Licht im Flur war zwar aus, aber die Tür dorthin offen. Und genau in diesem Durchgang stand eine maskierte Person. Sie blieb erstarrt stehen – eine Hand an den Lippen, die andere in einer Umhängetasche. Langsam zog die Gestalt ihre Hand aus der Tasche, nur …

Liane hatte keine Angst. Sie fühlte sich nicht bedroht. Stattdessen wirkte es eher so, als wollte sich die Fremde entschuldigen? Ja. Die … Frau, sie war nicht hier, um ihnen etwas zu anzutun. Sie-

Die Einbrecherin ließ etwas auf den Boden fallen und huschte den dunklen Flur entlang. Ein Windzug ließ die Tür zum Flur schwenken.

Dann blieb alles still.

Liane musste den Kopf schütteln, um wieder zu Sinnen zu kommen. Hatte sie etwas an den Augen? Wieso war sie so ruhig geblieben? Und wieso hatte sie geglaubt, dass sich die Fremde entschuldigen wollte?! Niemand brach irgendwo ein, um sich zu entschuldigen! … Oder?

Shiloh tippte ungeduldig gegen ihren Arm und wies erneut zur Küche.

„Schon gut. Wir … wir sind wieder allein. Sie ist gerade abgehauen. Glaube ich?“

„Glaubst du?“, sie klang nicht sehr überzeugt.

„Ja … Sie … Sie hat gerade da gestanden. Genau“, es fiel Liane schwer, sich auf ihre eigenen Worte zu konzentrieren, „Als ich aufgestanden bin, ich … ich habe sie gesehen. Sie hat irgendetwas fallen gelassen. Da drüben!“

Unruhe suchte sie heim. Ja, sie wusste, dass es unglaubwürdig klang, aber … musste Shiloh sie denn so ansehen? Sie dachte sich das nicht aus! Wenn sie nur nachsehen würden. Wenn sie nur-

Mit pochendem Herzen warf sie ihre Zöpfe nach hinten und schritt zum Flur herüber. Sie glaubte schon fast, der Fremden dort in die Arme zu laufen. Was, wenn diese Liane oder Shiloh rauslocken wollte? Um sie zu überfallen?

Ein paar einsame Geldscheine warteten auf sie.

Geldscheine und eine Spur aus Erde.

„Hier … Hier hat sie gestanden“, begann sie erneut und wank nun Shiloh herüber, „Sie hat-“

Die Türklingel riss sie aus der Erzählung und unschlüssig blickten sich die Mädchen an. Liane knipste in jedem anliegenden Zimmer das Licht an, ehe sie zur Haustür ging. Nun konnten sie auch sehen, wie die Spur sich auf den Stufen nach oben verlor.

Unschlüssig antwortete Liane dem erneuten Klingeln.

„Ja?“, ihre Stimme hatte etwas von einer geschlachteten Kröte.

„Pizza“, erklang es aus der Sprechanlage.

„Sie ist sicher da lang?“, fragte Shiloh nochmal.

Liane nickte.

Prompt drängelte sich ihre Freundin vor: „Komm rein. Ich gebe dir zwanzig Mücken, wenn du durch die Hintertür rausgehst, ja?“

Schweigen.

Dann Zustimmung.

Erleichtert nickte Shiloh und schloss auf. Sie begleiteten den Lieferanten einmal durchs Haus, bis ans Ende der Spur, die auch wirklich in den Garten führte. Erst dort zahlten sie ihn aus und schickten ihn freundlich, aber streng, fort.

Das Geräusch beim Abschließen der Tür hallte viel zu laut in Lianes Ohren nach.

„Sie war nicht zu gewesen“, flüsterte ihre Freundin, „Hast du …“

„Nein … Aber Papa vielleicht … Ich weiß nicht“, erschrocken drehte sie sich um, „Wir haben die Küchenfenster offen gelassen!“

Shiloh zuckte zusammen.

„Gut. Licht bleibt an, wir verschanzen uns in deinem Zimmer. Die Spur führt von oben weg. Also, wenn wir kein Pech haben, ist es da am sichersten. Zumindest bis die Polizei kommt und-“

„Wenn die Polizei kommt?“, hastig blickte sich Liane um, „Wenn Papa auch nur ahnt, was hier los war, wird er ausrasten! Und wenn die Einbrecherin wieder weg ist, ist doch eh alles gut, oder?“

„Wer einmal einbricht, kann schnell wiederkommen“, erwiderte ihre Freundin unschlüssig.

„Ich weiß nicht … Ich … Bitte keine Polizei, ja? Papa ist schon sauer genug. Wenn nun noch Blaulicht auf ihn wartet … Das wird nicht gut enden. Das … das kann er nicht …“

Seufzend schüttelte Shiloh den Kopf: „Lia … Er muss es erfahren.“

„Gern. Aber nicht so bald, ja? Bitte.“

Endlich ließ sich ihre Freundin erweichen und gemeinsam schoben sie sich nach oben. In die Sicherheit eines kleinen Zimmers mit angrenzendem Bad, wo sie als erstes die Tür verbarrikadierten.

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