Timothy – Die grüne Tinte …

Die ganze Nacht wachte ich neben dem schlafenden Pfarrer. Ich konnte nicht anders. Ich konnte nicht verstehen, wie Jane an ihrem Glauben gegenüber Gott festhalten konnte, wenn die Leute Gottes sie doch Tod sehen wollten! Womit hatte sie das verdient? Sie war nur ein Mädchen! Nur ein Mädch-

Genau wie Evangeline.

Ja. Evangeline und ich … wir waren auch nur Kinder gewesen. Und dennoch hatte man unsere Leben verlangt. Welcher Gott war so grausam? Welcher Gott war so-

Der Mann vor mir rührte sich. Schwerfällig setzte er sich auf und streckte die Arme in die Höhe. Seine Gelenke knackten leise. Er erhob sich gähnend. Seufzend. Schlürfte so orientierungslos durch seine Gemächer und-

Obwohl er mich nicht sah, zog er einen Bogen um mich? Ha! Wenn er nur die Augen aufreißen könnte! Wenn er mich sehen könnte! Wenn …

Wenn er mich sehen könnte, würde er es gewiss Jane in die Schuhe schieben. Er würde sie als Geisterbeschwörerin beschimpfen. Als Hexe der übelsten Sorte. Ja! So, wie er mit dem Exorzisten gesprochen hatte … Gewiss hatten sie es auf Jane abgesehen. Genau! Wieso sonst hätten sie in der Kirche auf ihre Rückkehr lauern sollen? Sie hatten mein Gespräch mit ihr belauscht, als hätten sie es erwartet gehabt! Als hätten sie eine Hexe gebraucht!

Nachdenklich hielt ich inne. Der neue Gedanke ließ mir keine Ruhe. Er wirkte so absurd, so lächerlich, so … klar.

Ich beobachtete, wie der Pfarrer an seinen Schreibtisch trat und die Kerze begutachtete. Ich beobachtete ihn genaustens. Jede Bewegung. Jede Mimik. Keinen Augenblick ließ ich ihn in Ruhe ziehen. Mehrfach huschte ich ihm sogar in den Weg, sodass er durch mich hindurchtreten musste.

Danach erschauderte der alte Mann immer so fürchterlich. Er schien auch hektischer zu werden. Unaufmerksamer. So riss er versehentlich die Brieftruhe von seinem Tisch herunter und tanzend verteilten sich die Zettel auf den Dielen.

Sofort stimmte der Pfarrer ein Gebet an.

Was sollte das? Sollten die heiligen Worte das Chaos bereinigen? Oder musste er Stress abbauen? Fühlte er sich von mir gestresst? Ich wagte es kaum zu hoffen, aber wenn ich ihn auch so in seine Schranken weisen könnte …

Ja. Es war ein verlockender Gedanke. Vor allem nun, da mir allmählich die Zeit davonlief. Wenn der Pfarrer mich für ein Omen Gottes hielt und ich Jane so auch beschützen könnte, ohne das Feuer los-

Irritiert hielt ich inne. Irgendetwas war mir aus den Augenwinkeln aufgefallen. Was? Es hatte fehl am Platz gewirkt. Ungewöhnlich-

Da!

Ohne weiter auf den Geistigen zu achten, huschte ich zu dem Brief mit dem grünen Siegel herüber. Das war eine ungewöhnliche Tintenfarbe. Eine ungewöhnliche Tintenfarbe für ein ungewöhnliches Wappen. Die Hörner des Teufels waren darauf abgebildet. Und das Kirchenkreuz.

Eilig verschlang ich die Wörter auf dem Pergament und wandte mich dann um. Der Brief hatte sich zu vertraut gelesen. Zu offen. Zu-

Dort!

In dem Durcheinander konnte ich fünf Zettel finden. Fünf Zettel mit diesem grünen Siegel. Fünf Zettel, in denen der Tod einer Frau oder eines Mädchens beschlossen wurde. Fünf Zettel, in denen vom Pfarrer ein Name verlangt wurde.

Um die Gläubigen an die Kirche zu binden. Sie sollten sehen, wie es jenen erginge, die sich abwendeten.

Angewidert ließ ich mich durch den Boden fallen. Ich konnte mich nicht mehr neben diesem verabscheuungswürdigen Pfarrer aufhalten. Wenn ich neben ihm verweilte, würde ich ihn vernichten wollen. Ich würde ihn schreien hören wollen. Ich würde ihn brennen sehen wollen!

Wie konnte er nur? Wie konnte er nur diese Leben wegwerfen? Wie konnte er Jane dem Scheiterhaufen versprechen? Besaß er denn keine Seele? Kein Herz?

War er der Teufel?

Der Teufel … Warum glaubte Jane, dass Gott mein Dasein beschützte? Warum nicht der Teufel? Die Flammen hatten auf mich gehört! Noch immer wollte ich den Pfarrer umbringen. Ich wollte- Ich wollte …

Es würde Jane traurig stimmen, oder?

Seufzend schwebte ich aus der Kirche, um sie zu suchen. Sie musste auf mich hören. Sie musste von diesen Briefen erfahren. Sie musste leben!

Wenn nicht, würde mich nichts mehr davon abhalten, ihren Blutzoll zu verlangen.

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