
Daniela und Robert Schuster waren ein älteres Ehepaar, das erst vor knapp zehn Jahren nach Kriegsheim gezogen war. Hier hatten sie sich ein ruhigeres Leben gewünscht. Ganz ohne ihre einst so neugierigen Nachbarn, die an ihren nervigen Vorurteilen festhielten. Außerdem gab es hier nur eine einzige Schule im gesamten Dorf und der Kinderlärm hielt sich auch in Grenzen.
Zumindest meistens.
„Diese Bengel sind über meine Chrysanthemen gelatscht! Meine Chrysanthemen, Robert!“, schimpfte Daniela.
„Ich weiß, das sagtest du bereits“, mürrisch hockte er vor seinem Kreuzworträtsel und weigerte sich, aufzusehen.
„Ich habe sie draußen angepflanzt, als wir hier eingezogen sind! Fast zehn Jahre haben sie unseren Vorgarten geschmückt. Und nun? Außerdem haben diese Knirpse die Holundersträuche zerrupft! Ganz zu schweigen von dem abgebrochenen Apfelbaumast. Diese Kinder sind kleine Teufel! Sie gehören in eine Anstalt!“
„Ja, ja. In eine abgesicherte Anstalt … mit Zwangswesten? Oh! Hast du eine Zierpflanze mit P für mich? Endet auf E“, murmelte ihr Mann und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen die Lehne seines Sessels.
„Petunie“, spuckte sie ihm giftig entgegen und stürmte aus dem Zimmer.
Sie war zu erbost, um sich seine albernen Fragen antun zu können. Für ihn war die Sache eh erst mal geklärt. Sie hatten sich mit der Betreuerin des Waisenhauses unterhalten und eine Abmachung getroffen. Nun sollten die Übeltäter morgen vorbeikommen und ihren Garten wieder auf Vordermann bringen.
Jetzt aber weiter zu schimpfen hielt ihr Mann für Zeitverschwendung.
Mit zitternden Fäusten blieb Daniela Schuster vor einem Fenster stehen und blickte nach draußen.
Sie müsste diese Teufel morgen den ganzen Tag in ihren Garten werkeln lassen! Diese dreckigen, kleinen …
Ihre Finger strichen über ihren Bauch, ehe sie sich in das vernarbte Fleisch krallten.
Kinder waren das unnötigste, dämlichste und überflüssigste, was sie sich vorstellen konnte! Wie sie einst selber mal eines bekommen wollte, war ihr mittlerweile ein Rätsel …
Abrupt wandte sie sich vom Fenster ab und stampfte nach oben. Es war schon viel zu spät. Das Gespräch mit dieser dummen Betreuerin hatte sich ewig hingezogen. Sie musste ins Bett, sonst wäre sie morgens zu nichts zu gebrauchen.
Ein leises Poltern erklang von nebenan und irritiert ging sie in das Arbeitszimmer ihres Mannes.
„Robert?“, fragend knipste sie das Licht an.
Doch der Raum sah genauso aus wie immer. An der Wand stapelten sich die Medizinbücher, daneben hingen die ganzen Urkunden. Obwohl Mr. Schuster nie den Doktortitel erreicht hatte, hatte er sich stets mit Seminaren weitergebildet. Viele Studierende und Professoren hatten große Hoffnungen in ihn gesetzt … Bis man ihn des Diebstahls von Medikamenten in einem Praktikum bezichtigt hatte.
Einzig Daniela kannte die Wahrheit hinter diesen Vorwürfen. Es war alles ihre Schuld gewesen. Sie hasste sich dafür. Sich und all die Kinder dieser Welt!
Von ihrem Hass geblendet, knallte sie die Tür zu und schaltete auf Autopilot.
Wärmflasche? Ja. Zähne geputzt? Ja. Wasserbecher auf dem Nachttisch? Ja.
Ohne ihrem Mann eine gute Nacht zu wünschen, nahm sie ihre Schlaftabletten und legte sich ins Bett. Er würde sicherlich auch bald kommen …
Daniela erwachte zu aufgeregten Stimmen, die durch das Haus schalten. Jemand diskutierte. Ja. Das war ihr Robert. Und … die andere Stimme hatte sie auch schon einmal gehört … wann war das nur gewesen …?
Jemand schaltete das Licht ein und eine dürre Polizistin stand in der Tür.
„Verzeihen Sie, Mrs. Schuster. Bei uns ist ein akuter Hinweis eingegangen, der eine sofortige Hausdurchsuchung bei Ihnen erfordert. Wenn Sie mich bitte nach unten zu ihrem Mann begleiten könnten?“
Die alte Frau blinzelte irritiert: „Ist das ein Witz?“
„Es ist fünf Uhr morgens. Um diese Uhrzeit scherze ich noch nicht rum, Ma’am“, widersprach die Beamtin nachdrücklich, „Ihr Mann spricht bereits mit meinem Kollegen. Wenn Sie-“
„DAS IST DOCH LÄCHERLICH!“, Roberts Stimme bebte empört durch das Haus.
„Bitte“, auf dem Weg nach unten, erkannte Daniela nun auch die Stimme des anderen Polizisten, „Ich bin mir sicher, dass nichts an dem Hinweis dran ist. Er war jedoch so detailliert, dass wir nicht untätig bleiben dürfen. Lassen Sie uns bitte einfach unsere Arbeit machen und das Missverständnis aufklären, in Ordnung?“
„Sie sind ja lustig! SIE haben uns um diese gottlose Uhrzeit aus dem Bett geklingelt!“, die Zornesröte stieg Robert ins Gesicht.
„Bitte, können wir das nicht ruhiger klären?“, versuchte Daniela höflich.
„Ach ja? Sie werfen uns Drogenhandel mit Minderjährigen vor! Drogenhandel! Kannst du dir das vorstellen, Daniela?“
Drogenhandel? Mit Minderjährigen?
Obwohl es dumm war, konnte sie nicht anders. Sie musste lachen! Warum sollte sie Rauschmittel verbreiten? Und dann noch an Kinder? Das war der absurdeste Vorwurf überhaupt!
„Finden sie das lustig, Mrs. Schuster?“, hinterfragte die Polizistin sofort, während ihr Kollege nach oben ging.
„Warum sollte ich mich mit Kindern abgeben, wenn ich sie nicht ausstehen kann?“, fragte Daniela jedoch kopfschüttelnd.
„Nun, in Havbolt kam es in den letzten Wochen zu mehreren Noteinsätzen wegen Überdosen. Insgesamt sind drei Minderjährige deswegen verstorben … Und … kommen Sie nicht aus Havbolt?“
Nun biss sie sich hastig auf die Zunge.
Sie hatte alle Nachrichten zu Havbolt gemieden, seitdem sie hierher gezogen waren. Von diesen Vorfällen hatte sie nichts gewusst! Sie hatte nichts-
„Wir waren seit über einem Jahrzehnt nicht mehr in Havbolt“, Mr. Schuster legte einen Arm auf ihre Schulter, „Das können Sie gerne überprüfen.“
„Und das werden wir auch müssen“, der Polizist kam die Treppe herunter und wies das Ehepärchen an, ihnen nach oben zu folgen, „Ich habe ja schon viele Arbeitszimmer gesehen. Ordentliche. Unordentliche. Chaotische. Aber das hier? Das ist neu“, er zeigte auf Roberts Schreibtisch.
Mehrere Tüten mit weißem Pulver verzierten das edle Holz. Über den Urkunden klebten Zeitungsartikel aus Havbolt. „Überdosis einer Vierzehnjährigen“ stand in einer der Überschriften. Darunter prangte ein Foto des Mädchens, das rot durchgestrichen war. Eine Karte klebte vor den Medizinbüchern und markierte verschiedene Routen nach Havbolt. Eines der Bücher steckte nur halb im Schrank. „Die Dosis macht aus der Medizin das Gift“, stand darauf.
Daniela schluckte.
„Das ist nicht von uns! Das …“, Robert schüttelte erschrocken den Kopf, „Ja, wir mögen keine Kinder, aber …“
„Mögen keine Kinder?“, nun musste der Polizist belustigt den Kopf schütteln, „Sie wissen schon, dass wir über fünfzig Beschwerden auf dem Revier haben? Alle von Eltern, die ihr Verhalten gegenüber Kindern bemängeln.“
„Das waren doch alles Lappalien. Das hier ist nicht-“
„Das war gestern noch nicht hier. Sie müssen uns glauben“, flüsterte Daniela.
Sie wusste es. Sie hatte gestern Abend genau hier gestanden. Da war alles so wie immer gewesen. Da war alles-
„Selbst wenn, der Besitz von Rauschmitteln wird bereits mit einer Haftstrafe geahndet. Deswegen müssen wir sie leider abführen. Aus Respekt möchte ich Ihnen noch einen Moment einräumen, sich etwas … Passenderes anzuziehen. Danach geht es aufs Revier. Noch Fragen?“
Das Ehepärchen tauschte einen Blick aus.
Das war nicht das erste Mal, dass sie abgeführt wurden.
„Wir wollen unseren Anwalt anrufen“, erklärte Robert nun mit angespannter Stimme.
Und danach? Sie würden erneut umziehen müssen, um den Gerüchten zu entkommen … Genauso wie beim letzten Mal.