K: Die Grün-Augen-Kobolde I

Isabel rührte lustlos in ihrem Mittagessen herum. Irgendein Auflauf. Sabine, die Betreuerin des Waisenhauses, hatte ihn vorhin zusammengewürfelt, doch konnte er das Mädchen nicht minder interessieren. Essen war nur eine Aufgabe.

Essen. Trinken. Schlafen. Aufstehen und Funktionieren … Das waren alles nur Aufgaben.

Aufgaben, in denen sie keinen Sinn sah.

„Ich weiß, es ist schwer“, erklärte ihr Stiefbruder Paul zum wiederholten Mal, „Aber Anja muss ihr eigenes Leben bewältigen. Und ihr eures. Verstehst du?“

Isabel blickte lustlos zu dem Älteren. Dann über die anderen besorgten Gesichter hinweg zu ihrem Zwilling Robby, der zumindest an seiner halben Scheibe Brot knabberte.

Er sah so müde aus …

Ob sie denselben Gesichtsausdruck trug?

Nachdenklich begutachtete sie ihren Teller. Ein Stück Möhre erregte ihre Aufmerksamkeit und so schob sie es ein wenig mit dem Löffel umher.

Warum wollte das Essen nicht weniger werden? Warum musste alles immer so doof laufen? Warum …

Warum ließ sie jeder im Stich?!

Erschöpft schloss Isabel die Augen.

Erwachsene … Erwachsene waren so ungerecht! Sie dachten nur an ihr eigenes Wohl! Sie taten das, was sie wollten. Sie gingen dorthin, wo sie hin wollten. Sie- Sie- Sie …

Isabel erinnerte sich an das verschwommene Gesicht einer Frau. An das Gesicht ihrer Mutter. Es fühlte sich wie ein vergangener Traum an, als diese Robby und sie vor diesem Waisenhaus ausgesetzt hatte. Sie hatte die beiden mitten in der Nacht aus dem Auto geworfen. Hatte ihnen nicht mal eine Decke oder Jacke erlaubt, ehe sie sich aus dem Staub gemacht hatte …

Diese Nacht war so bitterkalt gewesen, dass Isabel es für ihre letzte gehalten hatte. Zittrig hatte sie ihren kranken Bruder an sich gepresst. Sie hatte geweint. Aber nicht geschrien. Nein. Geschrei wäre bestraft worden. Das hatte sie sich nicht leisten können!

Und so konnten sie sich nur verängstigt aneinander festklammern.

Irgendwann war dann Anja aus dem Haus gestürzt. Sie war gerade mal fünfzehn gewesen und hatte die Zwillinge eilig ins Haus gebracht. Anja hatte die Betreuerin geweckt und ihnen eine heiße Zitrone angerührt. Anja hatte sich um Isabel und Robby gekümmert. Anja hatte sie in den Arm genommen. Anja hatte sie behütet, getröstet und umsorgt. Anja hatte versprochen für sie da zu sein!

Und vorgestern war Anja dann mit ihrem Freund ausgezogen.

Klirrend landete Isabels Löffel auf dem Boden und ruckartig schabte sie ihren Stuhl zurück.

„Isa! Setz dich wieder, du hast fast nichts angerührt! Robby? Hey! Robby! Das gilt auch für dich!”, schrie Sabine aus der Küche.

Doch interessierte es das Mädchen nicht.

Erst vor der Haustür blieb sie stehen und plumpste ausgelaugt auf den Rasen. Ihr Zwilling tat es ihr gleich. Er lehnte sich an sie und erleichtert hieß sie ihn willkommen, während sie zur Straße starrte.

Wenigstens er würde ihr immer bleiben.

„Es ist … Es ist noch gar nicht so kalt“, murmelte er viel zu still vor sich hin.

Isabel sah uninteressiert hoch.

Ja. Für Anfang Herbst war es noch recht warm. Es war so sonnig und warm … Ganz anders als die bedrückte Stimmung die in ihr vorherrschte.

Ganz anders als der Blizzard, der ihre Gedanken vernebelte.

„Das kommt bestimmt noch“, murmelte sie abwesend.

Ihre Finger strichen über den Rasen. Die grünen Halme darunter wirkten so stark. So viel stärker als sie sich fühlte. Dabei konnte sie diese doch so leicht knicken und raus rupfen! Ob alles im Leben so zerbrechlich war?

Anja hatte sie hier zurück gelassen …

Als teilten sie dieselben Gedanken, schniefte Robby plötzlich. Sein Körper bebte und schüttelte sich und Isabel hatte zu kämpfen, sich nicht von seinen Gefühlen anstecken zu lassen.

Einer von ihnen musste stark bleiben!

„Warum … Warum wollte sie nicht bei uns bleiben? Das ist nicht fair! Haben wir irgendetwas Schlimmes getan?!“

„Robby … Schon gut … Schon gut …“, Isabel strich ihrem Zwilling sanft über den Rücken, „Alles wird gut, ja? Mach dir keine Sorgen … An-“

Mitten im Namen brach ihr die Stimme weg.

Wieso musste dieser Abschied nur so stark schmerzen?!

„Aber … Was, wenn Anja etwas passiert und sie nicht zurückkommen kann? Oder noch schlimmer: Wenn sie gar nicht zurückkommen will? Werden wir sie je wiedersehen? Sie … Sie ist … Sie ist mir wie …“

Er wurde immer leiser, doch Isabel konnte sich die Worte schon denken.

Ja. Nicht nur für ihn war Anja wie eine Mama …

„Für mich auch“, gestand Isabel und bemerkte nun erst die Tränen, die an ihren Wangen herab strömten, „Ich wollte sie schon so oft Mama nennen, aber …“

„Wieso hast du nicht?“

Erschrocken sprang sie auf und starrte auf Christoph, der plötzlich in der Tür hinter ihnen stand.

„Wir haben keinen Hunger!“, schrie sie das erstbeste aus, allerdings schien es ihn nicht zu interessieren.

„Gut. Ich auch nicht“, schulterzuckend setze er sich auf ihre andere Seite und starrte ebenfalls auf die Straße, „Also … Warum hast du es Anja nie gesagt, wenn sie dir doch so viel bedeutet?“

Die Wut packte Isabel schneller, als sie es für möglich gehalten hatte. Hastig stemmte sie ihre Hände in die Hüften. Genauso, wie Sabine es immer tat, ehe sie meckerte.

„Das geht dich nichts an! Was machst du überhaupt hier?“

Jedoch antwortete ihr Stiefbruder nicht. Er starrte nur weiter auf die Straße.

Er sah so traurig aus …

„Vermisst du Tom?“, Robbys Frage klang so sanft in ihren Ohren wider, dass Isabels Zorn sofort verflog, „Du … Du hast gestern auch kaum etwas gegessen und du wolltest immer … also …“

Nachdenklich betrachtete sie die beiden.

Tom war Anjas Freund. Die beiden waren gemeinsam ausgezogen, aber … eigentlich hatte sie sich kaum für den Älteren interessiert. Sie vermisste ihn nicht einmal! Wenn Tom allerdings eine so wichtige Rolle für Christoph eingenommen hatte, wie Anja für Robby und sie …

Langsam ließ sie sich zurück auf den Rasen fallen.

Schweigend beobachteten sie nun zu dritt die Straße. Die Straße, die ihre älteren Stiefgeschwister vorgestern genommen hatten, um wegzufahren. Sie alle hatten dabei jemanden verloren. Und dieser gemeinsame Verlust …

„Tom war der erste, der mich wirklich für mich gesehen hatte“, erklärte Christoph nach einer Weile, „Er ist für mich mehr, als nur ein Stiefbruder …“

Nickend zog Isabel ihn an sich heran und strich ihm sanft über den Rücken, wie sie es sonst nur bei ihrem Zwilling tat.

„Ich glaub‘, ich versteh‘ schon … Anja … Sie war uns wie eine Mama, aber nannte sich immer Stiefschwester … Ich … Ich hatte Angst, dass sie nicht unsere Mama sein will. Dass sie nicht …“, ein verschwommenes Gesicht wollte sie heimsuchen.

Hastig kniff sie die Augen zusammen.

„Die Welt ist nicht fair …“, Robby drückte sie beide an sich, „Nichts ist fair!“

„Nichts ist fair und alles muss immer so doof und traurig sein. Ich wünschte es wäre wieder der erste April. Dann hätte man wenigstens was zum Lachen“, murrte Christoph vor sich hin.

Zustimmend nickten die Zwillinge.

Dann hielten alle drei Kinder inne.

Am ersten April hatten immer alle gelacht und obwohl Anja viel über die Streiche schimpfte, so hatte sie dabei nie ernst geklungen. Nein. Dafür hatten sie die Späße zu sehr aufgemuntert und … und …

Isabel vermisste dieses Lachen.

„Wenn es sonst so doof und traurig ist-“, ihr Bruder schaute sie fragend an und nun konnte sie nicht anders.

Sie musste grinsen.

„-wollen wir es uns dann nicht lustiger machen? Sabine wird sicherlich Anja und Tom anrufen und zurück bitten, wenn sie nicht mit uns klarkommt, oder?“, beendete sie den Gedanken ihres Bruders.

Und zum ersten Mal schenkte ihr auch Christoph ein echtes Lächeln.

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