M: Vom Tageslicht verschluckt II

„Auf dein Zimmer“, befahl das Kindermädchen, noch ehe die Tür ins Schloss fiel.

Sie nickte. Ihre Hand lag noch immer auf der schmerzenden Wange. Stumme Tränen hatten sie befeuchtet. Stumme Tränen, die einfach nicht enden wollten.

Stephanie hasste diese Frau!

Wortlos ging sie nach nebenan und warf sich auf ihr Bett. Sie kickte dabei die dämlichen Klamotten runter. Diese hässlichen Fummel, die doch für den ganzen Mist mit verantwortlich waren! Am liebsten wollte sie die Sachen verbrennen! Sie wollte sich von allem nur noch lossagen!

Von Becky. Von ihrem Kindermädchen. Ja, selbst von ihrem Vater!

Nur ihre Mutter hatte sie verstanden.

Stephanie schrie in ihr Kissen. Es war alles, was sie tun konnte, um nicht den Verstand zu verlieren. Es war stets das einzige, das sie tun konnte …

Erst als es draußen schon dunkel wurde, ging ihre Zimmertür wieder auf. Sie knarrte leise. Das Licht aus dem Flur flackerte hinein und malte den Schatten ihres Kindermädchens an die Wand.

Aber das war egal. Sie hatte nicht vor, je wieder mit dieser Frau zu sprechen!

Stephanie hasste sie.

„Dein Vater hat angerufen.“

Stephanie grunzte unbeteiligt.

„Er will, dass ich dich trotzdem noch zu Becky bringe.“

Stephanie knurrte.

„Du musst dich auch nicht rausputzen“, erklärte ihr Kindermädchen seufzend.

Stephanie hob den linken Arm ein bisschen, um darunter durchzusehen.

Ihr Kindermädchen sah nicht glücklich aus. Gut.

„Er wollte dich eigentlich dort abholen. Als Überraschung, da er morgen frei bekommen hat.“

Verlockend hallten die Worte durchs Zimmer.

Stephanie wollte immer noch nicht zu Becky – und erst recht nicht mit ihrem abscheulichen Kindermädchen! Aber … wenn ihr Vater käme … sie könnte ihm erzählen, dass diese Frau sie geschlagen hätte! Dann würde er sie doch endlich entlassen, oder? Er musste einfach!

„Was ist mit Beckys Geschenk?“, murrte sie, „Wir haben kein Geschenkband gekauft.“

Die Frau warf genervt die Arme in die Luft: „Ich soll dich nur hinbringen. Wegen meiner pack ein Buch ein und behaupte, die falsche Tasche gegriffen zu haben oder was weiß ich.“

Stephanie nickte und setzte sich langsam auf. Noch immer wollte sie nicht zu dieser dummen Party. Sie war ihr jetzt schon zu anstrengend! Aber … Ihr Vater …

Er war alles, was sie noch hatte, wurde ihr viel zu schmerzhaft bewusst.

„Lass endlich losfahren, ehe ich es mir anders überlege“, murmelte sie.

Zu ihrer Überraschung widersprach das Kindermädchen nicht. Nun gut. Wahrscheinlich war ihr bewusst, dass sie zu weit gegangen war. Sie hatte Stephanie in aller Öffentlichkeit eine Ohrfeige gegeben!

Das musste doch Grund genug für ihre Entlassung sein …

„Ich soll unterwegs noch etwas für ihn besorgen“, erklärte das Kindermädchen, als sie Stephanies Turnbeutel betrachtete und ihn ihr nickend hinhielt, „Sollte nicht lange dauern. Du kannst in der Zwischenzeit bei einer Freundin warten.“

„Jemand wie du hat Freunde?“, Stephanie sprach so verächtlich sie nur konnte und endlich wirkte die Frau gereizt.

Das war überfällig gewesen!

„Ja. Auch andere Leute können Freunde haben. Nicht jeder ist so wie du und will das gesamte Glück der Welt zerstören, Ste-“, sie stoppte abrupt und atmete durch, „Egal. Jacke an. Schuhe an. Je früher wir da sind, desto früher kannst du dich bei Becky und ihren Freunden verkriechen.“

Der Tonfall löste in Stephanie nur eine weitere Welle der Verachtung aus – dennoch: Die Aussicht ihren Vater zu sehen, stellte alles andere in den Schatten. Wie auch nicht? So selten, wie sie ihn derzeit sah … Wie viele Überstunden er wohl schieben musste? Zeitweise kam er ja nur zum Schlafen nach Hause! Dass er nun Zeit für sie hatte …

Es würde sich alles bessern. Nicht gut werden. Dafür müsste ihre Mutter wieder auferstehen. Aber verbessern könnte es sich bestimmt.

Sie fuhren mit den Bussen in das Herz der Stadt. Hier tummelten sich zu der Uhrzeit alle möglichen Leute auf der Straße. Männer in Anzügen, Frauen in knappen Röcken und hohen Stiefeln, ein Typ mit acht riesigen Hunden …

Merichaven war geprägt von komischen Personen.

„Dandelion?“, fragte ihr Kindermädchen eine schwarzhaarige Frau, die gerade ein Werbeschild aufstellte. Drei Cocktails zum Preis von einem, wurde darauf beworben. Ein Fuchs lag unter dem schwungvollen Namen der Bar. Gierig starrte er in ein angewinkeltes Glas und umklammerte es mit seinem Schwanz. Er wirkte vollkommen von dem Getränk eingenommen. Vollkommen darauf versessen.

„Ja?“

Einen Augenblick sah die andere Frau verwirrt aus. Sie betrachtete erst Stephanies Kindermädchen, dann Stephanie und zuletzt wieder das Kindermädchen. Erkenntnis schlich sich auf ihre Züge.

„Ah, ich hatte nicht mit dir gerechnet, Mal“, sie setzte ein Lächeln auf.

„Ich … muss in der Nähe etwas für meinen Chef erledigen. Kannst du … um alter Tage willen, kurz ein Auge auf meine Stephanie haben? Dauert auch nicht lange.“

Das Mädchen wandte sich ab. Sie interessierte sich nicht für die aufgesetzte Freundlichkeit ihres Kindermädchens. So, wie diese Dandelion sie eh erstmal nicht erkannt hatte, konnten sie keine zu engen Freunde sein. Wusste sie es doch!

Genervt betrachtete Stephanie stattdessen das dumme Logo. Ein Fuchs, der Alkohol trank? Warum nicht gleich einen Baum, der tanzte? Oder ein riesiges Eichhörnchen, das total auf Schokolade abfuhr?!

Plötzlich legte diese Dandelion eine Hand auf ihre Schulter: „Magst du reinkommen? Ich muss noch die Lieferbestellungen fertigmachen.“

Reingehen? Helfen? Aber …

Sie sah sich um.

Ihr Kindermädchen hatte sich in Luft aufgelöst. Na toll. Hatte sie wirklich hier etwas zu erledigen oder wollte sie sich nur verkriechen? Immerhin würde sie noch heute entlassen werden. Das wusste Stephanie!

Allerdings … Ganz allein von hier aus würde sie nie zu Becky kommen … Und ohne Becky würde sie nicht ihren Vater treffen. Es war ein Teufelskreis!

Es sei denn …

„Natürlich helfe ich gerne. Ich würde es lieben!“, behauptete sie strahlend und folgte ihr hinein, „Doch ist mein Kindermädchen mit meinem Asthmaspray verschwunden und ich würde mich daher lieber nicht verausgaben wollen“, sie seufzte, „Dennoch … Wenn ich nur eines hätte, das ich vertrage … Wie das bei meiner Freundin Becky … Du könntest mir nicht zufällig helfen, zu ihr zu gelangen?“

Dandelion schob sich an die Bar und fischte ein paar Papiertüten hervor. Sie zählte sie stumm durch. Nickte.

„Können schon, doch Mal würde sich sicherlich um dich sorgen.“, behauptete sie.

Natürlich würde sie das! Stephanie wünschte es sich sogar! Sollte dieses dumme Kindermädchen doch am Angelhaken zappeln! Diese dumme Ziege hatte sich schon lang genug in Stephanies Leben eingemischt!

„Ach, was. Sie würde es verstehen. Aber ich will natürlich keine Umstände bereiten. Ich müsste nur wissen, welchen Bus-“

„Nicht doch“, lächelnd beugte sich die Frau vor und strich über ihre wunde Wange – sie war so viel liebevoller als Stephanies Kindermädchen! Beinahe sanftmütig! Dabei war sie tätowiert und – der Logik ihres Vaters folgend – ein Teil allen Übels in Merichaven!

„Dann … hilfst du mir?“

„Ich kann hier vor Feierabend nicht weg. Aber mein Stammgast Rocky schon“, sie wies auf einen Typen, der etwas abseits am Tresen saß, „Er kann dich mitnehmen. Oder? Bekommst auch die nächsten fünf Bier aufs Haus“, fragte sie an den Typen gewandt.

Er musterte Stephanie kurz.

Dann nickte er wortlos und nickte zur Tür.

Stephanie konnte ihr Glück kaum fassen. Überglücklich umarmte sie die Frau und schrie ihr ein Danke in die Brüste. Anschließend rannte sie dem Mann hinterher, warf ihren Turnbeutel auf den Rücksitz und setzte sich artig in sein Auto.

Dass die Freunde ihres Kindermädchens so nett waren – das grenzte ja fast an ein Wunder! Noch nie hatte sie so hilfsbereite Leute in Merichaven getroffen! Noch. Nie.

„Muss ein paar Umwege fahren. Die meisten Straßen sind um die Uhrzeit zu“, murmelte Rocky, als er den Motor startete, „Welche Adresse?“

Gähnend rezitierte Stephanie Straße und Viertel. Bei der Hausnummer musste sie erst ein wenig überlegen. Also gab sie ihm die nächstbeste. Es wäre nicht so schlimm. Wenn sie erst einmal da wäre, würde sie es erkennen.

Der Mann wendete und fuhr in eine Seitenstraße. Häuserwände rauschten an ihrem Fenster vorbei. Manchmal auch eine Person oder ein Fenster. Meistens konnte sie jedoch nichts erkennen, ehe sie schon wieder daran vorbei waren.

Müde fielen ihr die Augen zu.

Sie hatte ein solches Glück …

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