K: Die Kastanie

Risu betrachtete das Treiben auf der Straße unter ihm. Er saß auf einem der Bäume. Schräg über einem Obstverkäufer. Hier hielt er sich gern auf. Er genoss die Sonne, lauschte dem letzten Tratsch und wenn die Menschen nicht aufpassten, konnte er sich sogar ein paar Weintrauben oder eine Pflaume stibitzen. Die bekam er im Wald sonst nicht.

„Die Äpfel sind viel zu überteuert“, beschwerte sich eine Frau zeternd und neugierig betrachtete Risu sie.

Sie war groß. Blond. Muskulöse Oberarme. Neben ihr stand ein kleines Kind. Ein Mädchen. Vielleicht drei oder vier. Ebenso blond, aber ein viel schmaleres Gesicht. Ja! Sie wirkte geradezu hager!

„Angebot und Nachfrage, werte Frau“, erklärte der Verkäufer, „Es ist das Gesetz des Marktes.“

„Das Gesetz des Marktes? Wohl eher das Gesetz ihrer Gier!“

Empört schnappte der Mann nach Luft. Er fuchtelte mit den Händen herum. Beschwerte sich. Schimpfte.

Risu achtete nicht auf ihn. Das Kind war interessanter. Im Gegensatz zu den anderen Passanten waren ihre Augen wach. Sie sah sich die Waren an, sie betrachtete die anderen Menschen … und sie schaute hoch.

Lächelnd blickte sie Risu direkt in die Augen. Sie winkte zögerlich. Dennoch wirkte sie dabei irgendwie sicher. Als gäbe es nichts anderes auf der Welt.

Nur ihn.

„Du … meinst es ernst?“, fragte er leise.

Ihr Gesicht hellte sich auf und eilig kramte sie in ihrer Jackentasche. Sie fischte eine kleine Kastanie raus. Eine ausgetrocknete. Eine schiefe.

Sie hielt sie ihm hin.

Eine Kastanie …

Am liebsten hätte sich Risu beleidigt abgewandt. Eine Kastanie? Für ihn?! Auch wenn er wie ein Eichhörnchen aussah … dass sie ihn füttern wollte … War es denn so ungewöhnlich? Gewiss wusste dieses kleine Kind nicht einmal, was Eichhörnchen aßen. Welcher Erwachsene kannte sich schon großartig damit aus?

Vorsichtig schlitterte er den Baum hinab und krabbelte unter dem Verkaufstisch durch. Mittlerweile fauchten sich die Erwachsenen richtig an. Sie stritten sich über Preise, Früchte und ihre Vorfahren. Doch Risu war die Diskussion egal.

Das Kind wartete bereits hockend auf ihn.

„Bitte“, freudig streckte es ihm die Kastanie entgegen.

Er musterte sie noch einmal. Sie wirkte nicht magisch auf ihn. Aber sie hatte etwas an sich … etwas … Fürsorgliches? Nein. Das war nicht das richtige Wort … Etwas … etwas … Sorgenloses?

Langsam nahm er die Kastanie entgegen. Er konnte richtig sehen, wie das Mädchen vor Freude aufspringen wollte. Sie schien so glücklich zu sein … Weil sie ihm etwas gegeben hatte! Sie! Ihm!

Risu wurde warm ums Herz.

„Ich bin Lisa aus dem Waisenhaus. Und du? Wohnst du im Wald?“

Unwohl blickte er auf sein Geschenk.

Erwartete sie eine Antwort? Sollte er etwas entgegnen? Oder erschrak er sie damit nur unnötig? Wäre es besser, einfach wieder zu verschwinden? Und was, wenn sie dann traurig wäre?

Er wollte nicht, dass sie traurig wurde!

„Ja. Ich glaube, du kommst aus dem Wald, oder? Richtig? Wie ist es da? Kannst du so lange schlafen, wie du willst? Musst du Mittagsschlaf machen? Hast du Freunde? Geschwister? Ich habe ganz viele Geschwister, weißt du?“, sie brabbelte wie ein Wasserfall – von einem Thema zum nächsten. Unaufhaltsam.

Risu schluckte.

Also gut. Dann wollte sie wohl doch keine Antworten. In Ordnung. Das war ihm sogar lieber so.

Gelassen setzte er sich hin und ließ ihren Redeschwall über sich ergehen. Er klang schön. Entspannend. So entspannend, dass er die anderen Menschen um sich herum vergaß.

„Lisa, lass uns-“

Die Frau stoppte. Sie blickte ihn irritiert an. Als wollte sie etwas sagen. Etwas, was an ihn gerichtet wäre. Als wäre er genauso menschlich, wie sie selbst!

Dann belehrte sie sich eines besseren.

„Lisa. Wir gehen. Lass das arme Tier in Frieden. Du redest es sonst noch zu Tode.“

„Aber, Mama!“

„Ich bin nur deine Stiefmutter.“

„Nicht für mich!“, widersprach das Mädchen und wandte sich wieder Risu zu, „Ich muss los. Nach Hause. Wir müssen noch Essen für meine Geschwister vorbereiten. Ich habe nämlich ganz, ganz viele“, sie beschrieb einen gewaltigen Kreis mit ihren Armen, „Sehen wir uns morgen wieder? Wir könnten etwas spielen!“

Risu legte den Kopf schief.

Dann blinzelte er.

„Super! Lass uns morgen Verstecken spielen, ja? Ich suche dich als erstes!“, endlich wandte sie sich ab und klammerte sich an die ohnehin schon beladene Hand der Frau.

Er sah ihr einen Augenblick nach.

So viel, wie sie gebrabbelt hatte … Ihre Aufmerksamkeitsspanne war bestimmt nicht sehr groß. Bis morgen hätte sie ihn also vergessen. Sie würde ihn nicht suchen kommen …

Seine Augen blieben an der Kastanie hängen. Er starrte sie unschlüssig an. Dann suchte er nochmal nach dem Kind.

Doch war es bereits verschwunden.

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