M: Genug!

Sophie ließ die Worte an sich abprallen, während sie den Bleistift in ihrer Hand kreiste. Keine schnelle Bewegung. Eher eine rhythmische. Eine, die in dem Getöse der Diskussion gekonnt unterging.

Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Schon gar nicht, wenn sich die halbe Klasse wegen der Nachrichten zerfleischte.

„Er hat sie vergewaltigt!“

„Ob das denn stimmt?“

„Warum sonst sollte sie eine Abtreibung wollen?“

„Weil sie keinen Bock auf das Kind hat? Wer weiß schon, ob an den Behauptungen einer Minderjährigen etwas dran ist? Vielleicht will sie ihn nur in die Scheiße ziehen?“

„Ist doch egal! Jede Frau sollte über ihren eigenen Körper entscheiden dürfen!“

Sophie sah zu Diana herüber, die sich lauthals für Bellinas Rechte einsetzte. Bellina Mikelson … Sie war das Mädchen, das mit ihren Anschuldigungen Suderiens Nachrichten dominierte. Von einer Küste zur anderen hörte man nichts anderes mehr. Selbst die anstehenden Wahlen waren uninteressant geworden.

„Bitte etwas leiser, sonst können wir-“

Sophie blendete ihren Lehrer sofort wieder aus. Sie kannte den Monolog zur Genüge. Sie wusste, dass ihre Mitschüler sich nur kurz zügeln würden. Sie wusste, dass die Diskussion eskalieren würde.

Jede war bislang eskaliert.

„Egal, was war – es ist ihr Körper! Sie sollte auch ohne Beweise oder Gründe darüber entscheiden dürfen!“, schrie Diana plötzlich aus.

Müde schaute Sophie auf das tobende Mädchen.

Wenn es nur so einfach wäre … Ihre eigene Mutter war Rechtsanwältin und wegen der Nachrichtenflut hatte sich ihre Mom die Akten zu dem Fall angefordert. Sophie hatte stumm zugehört, als die Frau über die Fallakten und Referenzurteile gegangen war. Es hatte zu einer hitzigen Diskussion am Essentisch geführt. Nicht mit Sophie. Sondern …

Nachdenklich blickte sie zu ihrem Zwilling herüber. Sie konnte nicht viel von Marie erkennen. Nur die Arme, die etwas starr wirkten. Wahrscheinlich versuchte ihre Schwester, Ruhe zu bewahren.

Sie hatte ja ihrer Mom versprochen, sich nicht in die Diskussionen mit reinziehen zu lassen.

„Na und?! Sie war jahrelang mit dem Kerl befreundet! Wenn er so schlimm war, warum ist sie dann nicht abgehauen? Centy ist doch so groß oder irre ich?!“

„Ist ihre Entscheidung. Genau wie all das, was sie mit ihrem Körper macht.“

Dianas Stimme war so unnachgiebig, dass Sophie zusammenzuckte.

Sie wollte weg …

Der Lehrer erwiderte irgendetwas. Jemand hustete. Jemand …

Sophie legte den Kopf schief. Eine neue Wachheit durchströmte sie. Ein ungutes Gefühl.

Hatte sie es sich nur eingebildet? Oder …

Neugierig wandte sie sich erneut Marie zu. Sie versuchte, ihre Schwester auszumachen, allerdings hatten sich ihre Mitschüler nun in ihren Stühlen vorgelehnt und verdeckten die Sicht. Sophie konnte ihren Zwilling hinter all den anderen kaum erahn-

„Genug“, das Flüstern war so unverkennbar vertraut und erklang trptz der Lautstärke mit einem solchen Nachdruck, dass Sophie schluckte.

Marie war ihr Image extrem wichtig … Sie würde doch nicht-

„GENUG!“

Der Stuhl ihrer Schwester knallte auf den Boden, als diese hochsprang und dabei beide Hände auf den Tisch donnerte. Die Mitschüler um sie herum schnappten erschrocken nach Luft. Ihr Lehrer brachte ein fassungsloses „Ma-Marie!“ hervor. Sophie …

Sophie betrachtete ihren Zwilling mit großen Augen.

„Nein! Genug! Diana, hast du denn kein Hirn in der Birne?!“, die anderen Schüler zuckten zusammen, als Marie ihre beste Freundin anfuhr, „Habt ihr alle keinen Verstand mehr?! Oder seid ihr durchs Fernsehen verblödet?!“

„Marie Strom! Hinsetz-“, weiter kam der Lehrer nicht.

„Nun hab‘ dich nicht so“, entgegnete Diana mit überraschend versöhnlicher Stimme.

„Nun hab‘ dich nicht so?!“, Marie warf die Arme in die Luft, „Bellina Mikelson war über Jahre mit ihrem Freund zusammen und zeigt ihn nun, als sie plötzlich schwanger ist, an? Du kannst mir nicht erzählen, dass sie nur einmal Sex hatten und selbst wenn – sie waren über fünf Jahre ein Paar! Sie ist von Zuhause weggerannt! Sie hat sich bei ihm verkrochen! Sie hat bei ihm Schutz gesucht! Womit hat ihr Freund diese Anzeige verdient?! Das ist ein Vertrauensbruch auf so vielen Ebenen! Und dann noch die Abtreibung- Will sie die nur, weil die Beziehung etwas holprig ist? Will sie schon wieder von ‚daheim‘ wegrennen? Verdammt! So ist das Leben! Dann muss sie eben mal an ihrem arbeiten! All das rechtfertigt keine-“

„Was ist dein Problem?“, unterbrach Diana diesmal grober und stand langsam auf, „Es ist und bleibt ihr Körper. Niemand hat das Recht-“

„Es ist nicht mehr nur ihr Körper! Abzutreiben bedeutet, ein Leben auszulöschen! Es ist Mord! MORD!“

Sophie hörte, wie ihr Zwilling erschöpft hechelte. Als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

Sie schloss die Augen.

Dieselben Argumente hatte Marie auch vor ihrer Mutter angeführt. Sophie hatte schon damals beiden Seiten aufmerksam gelauscht und dennoch … Sie wollte niemals im Richterstuhl sitzen und den Hammer schwingen müssen.

„Von Mord zu sprechen, wenn das Kind noch nicht einmal geboren ist, ist eine-“

„Frage der Ethik?“, beendete Marie den Satz des Lehrers, „Ich glaube nicht. Sie trägt ein zweites Leben in sich. Warum sollte es so wichtig sein, ob es sich in oder außerhalb von ihr befindet? Wenn sie das Kind nach der Entbindung ermorden würde, wäre es auch Mord!“

„Ja, aber-“

„Aber was?“, Marie trat zwischen die Tischreihen auf den Lehrer zu, „Warum ist unser Leben wertvoller als das eines Embryos?!“

„Es ist noch unklar … also …“

„Also?!“

Marie schritt immer näher auf den Lehrer zu und selbst Diana wagte es plötzlich nicht mehr den Mund zu öffnen.

Sophie überfiel der Drang, aufzuspringen. Sie wollte rüber und ihre Schwester in die Arme schließen. Sie wollte ihr beruhigend über den Rücken streichen. Sie wollte ihr sagen, dass alles in Ordnung wäre. Dass alles in Ordnung käme. Dass sie sich nicht so aufregen müsse.

Stattdessen blieb sie sitzen.

Ihre Beziehung war schon seit Jahren angespannt. Sophies Gegenwart würde Marie eher aufregen und den gegenteiligen Effekt haben. Sie … Sie durfte nicht zu ihrem Zwilling.

Nicht mehr.

Schweigend blieb sie sitzen, als Marie zum Direktor geschickt wurde. Sie lauschte, wie Diana noch ein paar Worte zu Bellina flüsterte und dann Maries Sachen mitnahm. Sie wolle sich entschuldigen, offenbarte sie einigen Mädchen.

Sophie sah ihr unbeteiligt nach.

„Alles gut?“

Verdutzt blickte Sophie zu ihrem Lehrer hoch. Sie blinzelte. Starrte auf ihre Schulsachen. Auf den Bleistift in ihrer Hand.

War das schon ihre letzte Stunde gewesen oder hatte sie noch eine? Irgendwie wollten ihre Gedanken sich nicht beruhigen. Es war, als würde Bellinas Geschichte sie umklammern.

Das war nicht gut.

„Ja“, entgegnete Sophie leise, „Nur in Gedanken.“

Der Lehrer nickte und ging an den Schrank am anderen Ende des Raumes: „Dann mach, dass du loskommst. Ich will abschließen.“

Artig nickte Sophie und sammelte ihre Sachen ein.

„Auf wiedersehen“, murmelte sie beim Rausgehen, blieb jedoch an der nächsten Treppe wieder stehen.

Ihre Gedanken waren immer noch bei Bellina. Und bei Marie. Und Diana. Und ihrer Mom …

„Vergiss es!“, zischte sie ins Treppenhaus, „Vergiss es!“

Doch wollte es nicht gänzlich verschwinden.

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