B: Der Brief

Liane starrte auf die Tabletten, die ihr der Arzt verordnet hatte. Irgendwelche Antidepressiva, die ihr laut dem alten Mann helfen sollten, keinen Unfug mehr zu zeichnen. Sie sollte sie täglich zweimal nehmen. Mittags und abends. Immer zu denselben Uhrzeiten. Immer direkt vor den Mahlzeiten.

Entschlossen nahm sie sich ihre paar Pillen und warf sie in den kleinen Karton, der in ihrem Zimmer als Sammelsurium für winzige Objekte diente. Büroklammern, ein paar Stifte, zwei Würfel und diverser Krimskrams tummelten sich darin mit den Tabletten der letzten Tage.

Es war der einzige Ort, der ihr als Versteck in den Sinn gekommen war.

Seufzend legte sie die restlichen weißen Kapseln wieder auf ihren Nachttisch. Wenn man es denn einen Nachttisch nennen konnte. Eigentlich war auch das nur ein Karton. Der Karton der Küchenlampe, um genau zu sein.

Nachdem ihr Haus abgebrannt war, waren sie bei einigen Freunden ihres Vaters unterkommen. Bis sie endlich diese Wohnung gefunden hatten. Das Apartment lag weit außerhalb des Zentrums. Direkt an einem Highway. Der Straßenlärm beschallte sie mit ohrenbetäubenden Elan. Sie hatten fast alle Möbel kaufen müssen. Aber: Die Unterkunft im tiefsten Norden war die einzig bezahlbare gewesen.

Und so kam es, dass Lianes Zimmer von einem abgenutzten Bett, ihrem Schulrucksack und diversen Möbeln aus Kartons überflutet wurde. Ihr Schreibtisch bestand aus ein paar zusammengeklebten Pappen. Ihr Stuhl war einer von zwei Campingstühlen, die täglich mehrfach durch die Wohnung wanderten. Ihre Kleidung hatten sie in einem Secondhandladen besorgt, der die Sachen eigentlich nicht mal mehr verkaufen wollte.

Allerdings war das okay. Liane wusste, dass ihr Vater alles Erdenkliche für sie tat. Sie wusste, dass er sich kaputt schuftete und dass die Tabletten, die er ihr auf Anweisung des Arztes kaufte, auf Dauer sehr teuer werden konnten.

Deswegen fühlte sie sich schuldig. Jedoch bekam sie die Medizin nicht herunter. Sie hatte es mehrfach probiert. Aber jedes Mal … Jedes Mal fühlte es sich so an, als würde sie innerlich sterben. Als würde sie etwas Wichtiges vergessen. Als würde sie eine wandelnde Leiche werden.

Deswegen hatte sie die Pillen abgesetzt. Beim nächsten Mal würde sie den Arzt um eine Alternative bitten. Irgendetwas Bezahlbares musste es ja geben. Irgendetwas, was sie nicht … tötete …

„Ich habe keine Ahnung, ob es genießbar ist“, grüßte ihr Vater sie, als sie in die Küche trat, wo er eine suppige Pampe in einen Topf schüttete, „Es sollen Nudeln in Bolognese sein, glaub ich. Die Betonung liegt auf sollen.“

Schmunzelnd nahm sie auf dem wackligen Campingstuhl Platz, den sie gerade mitgebracht hatte und lehnte sich an die Wand: „Du wolltest es ausprobieren, erinnerst du dich? Du meintest, dass man mit Nudeln nicht viel verkehrt machen könne.“

„Nun. Ich habe mich geirrt“, verärgert griff er nach dem Holzlöffel und rührte die Pampe um, „Man kann eine ganze Menge mit Nudeln verkehrt machen. Angefangen bei den Nudeln.“

„Nun wirst du gemein.“

„Und du scheinst gute Laune zu haben. Alles gut? Hast du deine Tabletten schon genommen?“

Die Frage versetzte ihr einen leichten Stich im Herzen, jedoch ließ Liane sich nicht davon beirren. Stattdessen lenkte sie ihren Fokus um.

„Es sind Ferien. Wie sollte ich also keine gute Laune haben?“, schulterzuckend sah sie zu dem Kartontisch, auf dem ihr Vater nun immer seine neuen Autoschlüssel liegen ließ – nur dass diesmal noch etwas anderes darunter lag, „Was ist das?“

„Keine Ahnung. Steht dein Name drauf“, ihr Vater lehnte sich gegen den Herd, „War vorhin in diesem Ding, das unser Vermieter Briefkasten schimpft.“

Liane ignorierte das Grummeln ihres Vaters. Seitdem sie eingezogen waren, ließ sich ihre Postsammelstelle nicht verschließen und eigentlich konnte sich jeder an ihren Zustellungen bedienen. Bislang waren daher nur eine Hand voll Briefe bei ihnen angekommen, die durch ein Wunder oder einem netten Gespräch mit dem Postboten ihren Weg in die Wohnung gefunden hatten.

Neugierig nahm sie sich den Brief und drehte ihn in den Händen. Der Absender war ein Notar namens Pawjft. Irritiert betrachtete sie die Buchstaben. Das sagte ihr absolut gar nichts. Was wollte ein Notar von ihr?!

„Wenn der nächste Monat so gut läuft, wie dieser und die Versicherung endlich zahlt, können wir im Frühjahr in eine andere Wohnung ziehen. Ich habe mir schon ein paar Angebote eingeholt. Alles im erträglichen Rahmen, keine Sorge“, redete ihr Vater weiter.

„Hm“, stimmte sie ihm geistesabwesend zu.

Solange er nicht mit ihr über die Medikamente sprach, wäre sie glücklich. Dann müsste sie ihn nicht anlügen oder gar enttäuschen. Sie wollte nicht, dass er sich wegen ihr schlecht fühlen musste. Er hatte sich ja schon allein solche Sorgen wegen den Zeichnungen und der Gasexplosion gemacht.

Ohne den seltsamen Mann wäre sie beinahe gestorben …

Eilig verdrängte sie die Gedanken. Nein. Sie würde sich nicht davon runterziehen lassen. Sie würde keinen Stift zur Hand nehmen. Sie würde einfach … einfach … Ja! Sie würde einfach den Brief lesen. Immerhin hielt sie ihn doch eh schon in den Händen!

Mit einem zügigen Ruck riss sie den Umschlag auf und faltete das Papier auseinander. Als erstes fiel ihr das Logo des Notars auf. Oder das seiner Kanzlei? Wieso stand da nun etwas von einer Kanzlei? Oder arbeitete er mit einem Anwalt zusammen? Egal. Sie musste sich ablenken. Also weiter. Ja. Der Brief war an sie adressiert. Und er war auf Mitte letzter Woche datiert. Er wurde in Centy geschrieben. Wahrscheinlich irgendwo in der Innenstadt. Da, wo die ganzen Luxusapartments standen? Halbherzig las sie die ersten Zeilen.

Sofort saß Liane aufrecht in ihrem Stuhl. Einzelne Wortfetzen klangen in ihrem Kopf nach. Mit Bedauern … Mitteilen … Verstorben … Isa Silver … Erbberechtigung … Volljährigkeit …

Stopp. Moment. Wer war Isa Silver? Warum war sie als Lianes Mutter verzeichnet? Das ging doch nicht. Ihre Mutter hieß Elizabeth Rivers! Genau! Elizabeth Rivers. Daran erinnerte sie sich noch. Sie hatte immerhin mal versucht, ihre Mom wiederzufinden. Damals, als sie ins Teenageralter kam. Aber irgendwie war sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Und – das machte alles keinen Sinn!

„Na? Was ist es denn?“, die Frage ihres Vaters kitzelte ihre Ohren.

„Erbanspruch … Meine Mutter soll gestorben sein … Aber … Hier steht nichts von Mom. Das hier …“, sie wank mit dem Papier, „Das hier klingt alles so falsch …“

Unsicher drehte sie die Papiere in den Händen. Doch der Text blieb derselbe. Sie solle sich melden, damit die restlichen Formalitäten geklärt werden könnten. Sie habe ein Haus geerbt. Ein Vermögen. Irgendwelche Aktien.

Als ob sie sich mit Aktien auskennen würde!

„Zeig mal her“, rettete ihr Vater sie aus ihrem Gedankensog.

Etwas Fremdes lag in seinem Blick, als seine Augen zügig über den Brief flogen. Dann atmete er plötzlich erleichtert auf. Seine Mimik entspannte sich. Das Fremde verschwand wieder.

Zurückblieb ihr liebevoller Vater.  

„Hier. Schau mal. Elisabeth Rivers ist Isa Silvers Geburtsname. Wahrscheinlich hatte deine Mutter also ihren Namen geändert, nachdem sie fort ist.“

Obwohl er es so logisch erklärte und obwohl sie nickte – gruben sich Zweifel in Lianes Herz. Seine Reaktion war zu seltsam gewesen. Zu … falsch. Als ob er wirklich einen anderen Namen dort erwartet hätte und-

Moment. Ihre Mutter … war tot?

Auch das fühlte sich falsch an. Irgendwie erschien es Liane, als wäre ihre Mom schon seit Jahrzehnten begraben. Eilzabeth Rivers … Oder Isa Silver … Wie sie sich auch genannt haben mochte, ihre Mom-

Nein. Die Frau war nicht ihre Mom gewesen. Sie war nicht da gewesen. Sie war nicht … war nicht …

„Ich glaube, damit kann ich die Wohnungssuche aufgeben. Ein Haus sollte uns ausreichen, oder was meinst du?“, fragte ihr Vater erleichtert.

Liane nickte.

Ja. Diese Frau war nicht ihre Mutter gewesen. Da war sie sich sicher. Aber genau deswegen hatte sie ein anderer Gedanke überfallen.

War ihr Vater auch ihr Vater?

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