M: Internethistorie

„Na? Wie lange brauchst du diesmal?“, fragte Tyler den alten Rechner, „Ich habe dich vor fünf Minuten angeschaltet. Und du brauchst immer noch. Sicher, dass du eine so tolle Erfindung bist?“, murmelte er vor sich hin.

Allerdings lag keine Kraft hinter den Aussagen. Es waren nur leere Worte, die er trotzig über seine Lippen schob.

Das alte Teil brauchte genauso lange beim Start, wie sonst auch. Das war nichts Neues. Außer So- Außer Marie und ihm benutzte einfach keiner die Maschine. Ihr Dad kam mit der Technik nicht klar und ihre Mom zog die Geräte auf Arbeit vor. Die Erwachsenen hatten also kein Interesse daran, das Teil zu erneuern oder durch ein modernes zu ersetzen.

Der Startbildschirm präsentierte sich mit einer leisen Melodie.

Tyler drückte auf Enter und stand auf.

Es würde noch weitere zehn Minuten dauern, bis er den Rechner benutzen könnte. Bis dahin musste er sich nicht langweilen. Also schnappte er sich sein Tagebuch aus der Schultasche und blätterte darin herum. Er hatte es angelegt, als er das seiner Schwester gefunden hatte. Das Schreiben half ihm, einen klaren Kopf zu bekommen. Es half ihm, seine Gedanken loszulassen. Es half ihm, abzuschalten …

Erst nachdem er seine neuste Auseinandersetzung mit Le Bastardius beschrieben hatte – einem Teufel von einer Geschichtslehrerin –, schenkte er dem surrenden Kasten wieder seine Aufmerksamkeit.

Es war ihre Schuld, dass Tyler seinen Nachmittag an dieser kriechenden Gurke verbringen musste! Immerhin hatte sie ihnen diese überflüssige Strafarbeit gegeben, weil sie keinen Sinn für Humor besaß! Warum konnte sie auch nicht über sich lachen? Und nun sollten alle die Gründung von Raptioville recherchieren, obwohl sie den Mist bereits vor ein paar Schuljahren durchgenommen hatten.

Aber das war egal. Auch die Aufzeichnungen von damals waren egal. Er durfte sie nicht verwenden, weil er nur die Ergebnisse aus dem Internet präsentieren durfte.

„Offizielle Stadtseite von Raptioville“, flüsterte Tyler, während er die Worte in die Suchleiste eingab.

Der Rechner brummte.

„Ich habe dich gerade angemacht! Du kannst noch nicht zu heiß sein“, diskutierte er mit der Maschine, „Komm schon. Danach kannst du wieder schlafen.“

Langsam zeigte der Monitor die ersten Suchergebnisse an. Die offizielle Seite ihrer beiden Bibliotheken. Die ihres Kinos. Sogar eine über ihr Mahnmal, das an der Hauptstraße stand!

Das war alles unbrauchbar.

Genervt klickte Tyler erneut in die Suchleiste und augenblicklich fror alles ein. Die Maus verwandelte sich in eine Sanduhr. Ein grauer Film legte sich über den Bildschirm. Der Rechner stöhnte kläglich.

„So wird das nichts …“

„Tyler? Hast du Meowy schon gefüttert?“, rief seine Schwester Marie von nebenan.

„Als ich kam!“, er wackelte ungeduldig an der Maus herum, „Gab eine mittelgroße Portion, damit er endlich abnimmt!“

Das theatralische Mauzen aus der Küche war bis zum Computer zu hören.

Aber Tyler blendete ihn und seine Schwester aus. Er wusste, was sie sagen würde. Meowy solle aufhören zu meckern. Er verhungere schon nicht. Er solle sich in etwas mehr Geduld üben. Bla, bla, bla.

Sophie hatte nie so viel mit dem Kater diskutiert.

Nachdenklich starrte Tyler auf seine Hände. In einer hielt er die Maus. In der anderen einen Stift. Dennoch fühlten sie sich so leer an.

Das Aufflackern des Monitors riss ihn aus seinen Gedanken.

Nur wusste Tyler nicht mehr, was er eigentlich tun wollte.

Müde sah er auf die leeren Zettel vor ihm herab. Hausaufgaben. Ja. Er hatte eine Hausaufgabe. Recherchieren. Er sollte etwas recherchieren …

Aber der Computer war viel zu langsam!

Ohne sich weiter um seine Aufgaben zu kümmern, schloss er das Internetprogramm wieder. Dann sah er über den zu gekachelten Bildschirm. Überall lagen Dateien und irgendwelche Programme rum. Marie hatte sie dort verteilt. Irgendwelche Bilder und Dokumente, die ihm nichts bedeuteten.

Tyler ignorierte sie, als er den Browser erneut startete. Die Suchleiste war sofort frei und beschreibbar. Jedoch ignorierte der Junge sie. Er wollte lieber wissen, warum der Rechner sich zuvor so schnell aufgehängt hatte. Sonst funktionierte er doch zumindest für die ersten Minuten!

„Wie ging das nochmal …?“, murmelte der Junge und klickte sich durch die Einstellungen.

Irgendwo löschten die anderen immer irgendetwas, damit das Ding wieder lief. Aber was löschten sie? Waren es irgendwelche Kekse oder so? Er war sich unschlüssig. Er hatte sich nie dafür interessiert.

„Internethistorie?“, las er plötzlich und musste wieder an seine Geschichtslehrerin denken, „Kann sie das nicht als Geschichte Raptiovilles akzeptieren? Warum so kleinkariert sein?“

Stimmt. Das war seine Hausaufgabe!

Zufrieden klickte er darauf und sah, wie sich eine Liste Links öffnete. Ganz oben stand seine letzte Suchanfrage. Darunter stach ihm ein Wort immer wieder ins Auge.

Merichaven?

War das nicht der Ort, in dem Sophies Brief abgestempelt worden war? Aber er hatte diese Links damals gar nicht aufgerufen! Er hatte ihren Computer gar nich-

Neugierig klickte Tyler den ersten Link an und langsam baute sich eine Seite auf. Kanzlei Jade, stand mit großen Buchstaben ganz oben. Darunter wurde in schleppendem Tempo ein Menü und ein Bild geladen.

Wir gedenken Richard Jade, dem erstem ehrlichen Anwalt von Merichaven“, las Tyler die Bildunterschrift, „26. November 1943 – 05. Oktober 1997. Mit Trauer im Herzen müssen wir die Kanzlei bis auf Weiteres schließen. Bei Fragen-

„Was machst du da?“, herrschte Marie ihn plötzlich an und erschrocken sprang der Junge hoch.

„Ich … Also … Ich … Hausaufgaben … Aber der Rechner war so langsam“, stotterte Tyler.

„Das ist nichts für dich“, belehrte sie ihn, „Mach es z-“

„Ist das Mom?“

Irritiert strich Tyler über den Monitor. Er hatte erst nicht auf das Bild geachtet, bis er es nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte … Die Frau im Hintergrund sah genauso aus, wie ihre Mom! Es war dasselbe vergessliche Gesicht. Ohne markante Züge oder Formen.

Und genau das machte es für den Jungen so wiedererkennbar.

„Tyler, lass es sei-“

„Das ist Mom“, flüsterte er sicherer, „Schau doch! Wer sind die anderen Frauen? Und der Kerl? Richard Jade … Hast du schon mal was von dem Typen gehört?“

„Tyler … lass es“, ein neuer Ausdruck hatte sich in Maries Züge geschlichen, „Mom hatte kein gutes Verhältnis zu ihnen. Und wenn sie uns erwischt …“, kopfschüttelnd beugte sich seine Schwester über ihn und begann die Internethistorie zu löschen.

„Aber wer sind die Leute?“, beharrte Tyler weiter, „Und was hat Mom in Merichaven getrieben?“

Still klickte seine Schwester sich weiter durch den Browser. Klick. Klick. Klick. Kli-

Tyler schloss die Augen und sperrte die Geräusche aus. Er roch Maries Shampoo. Es war fruchtig. Wie Äpfel. Es war das einzig Vertraute, in dem heillosen Durcheinander, das sein Leben seit Monaten heimsuchte.

„Ihre Familie“, flüsterte Marie plötzlich und überrascht öffnete er seine Augen.

Er wollte erst fragen, was sie meinte. Wessen Familie. Worauf bezog sie sich? Was war der Zusammenhang?

Dann sah er, wie sie die letzte Seite aus dem Verlauf nahm und dennoch weiterhin auf die Stelle starrte, auf der ihre junge Mom abgebildet gewesen war.

„Sag ihr nie, dass du das gesehen hast. Sie … Ihr Verhältnis zu ihren Eltern war nicht das beste, ja?“

Tyler nickte irritiert.

Damit war das Thema für seine Schwester erledigt und still ließ sie ihn am Rechner zurück.

Erst als Tyler am Abend ins Bett musste, holten ihn die Geschehnisse des Tages wieder ein. Er überlegte sie in sein Tagebuch zu schreiben. Ließ den Stift bereits über das Papier schweben und-

Nein.

Stattdessen fanden andere Worte ihren Weg auf das Papier.

Hätte unsere restliche Familie wenigstens nach dir gesucht …

Sophie?

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