K: Ich sehe nichts

Das Geschrei hatte sie geweckt.

Verschlafen rollte sich Anja auf die Seite. Sie starrte auf die Wand zum Nebenzimmer. Runzelte die Stirn. Setzte ihre Brille auf. Blickte auf den Wecker. Seufzte.

Diesmal war es noch vor um drei.

Schlaftrunken schob sie sich aus dem Bett und schmiss sich eine dünne Jacke über. Ihr Zimmer war eiskalt. Kein Wunder. Die undichten Fenster und alten Heizkörper konnten schon ab September nachts keine ordentliche Temperatur mehr halten. Und mittlerweile kündigte sich Halloween an. Die Zeit der Geister, Gespenster und ruhelosen Seelen.

Sicher fanden Anjas Füße den Weg nach nebenan. Sie ignorierte die Deko, die sie mit den jüngeren Waisenkindern gebastelt hatte. In diesem Stockwerk waren es eh nur ein paar Vampire und Mumien aus Pappe sowie eine Hexe, die einer gewissen Lehrerin im Dorf ähnelte. Sie hatte die Dinge mit den Jungs gebastelt, weil es ihnen eine solche Freude bereitet hatte. Ihr selbst waren die Dekorationen und Übernatürliches gleich. Sie tat vieles nur für die Kinder.

Gähnend schob sie die Tür auf. Für einen Moment glaubte sie, etwas aus den Augenwinkeln gesehen zu haben. Zwei rote Punkte, die sofort wieder verschwanden. Ein Trick des Lichtes? Eine Spiegelung? Pure Einbildung? Sie waren ihr schon öfter aufgefallen. Allerdings verschwanden sie immer, ehe Anja sie genauer betrachten konnte.  

„Brauchst du was?“, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die anderen beiden Personen im Raum.

Ruckartig drehte sich Janine zu ihr um. Sie trug nur ein Nachthemd. Beine und Arme ragten nackt hervor. Einzig ein Holzarmreif zierte ihr Handgelenk. Jedoch hatte sich keine Gänsehaut auf ihren Gliedern gebildet. Nein. Die Ältere wirkte sogar etwas verschwitzt. Ihre Haare bildeten eine zerzauste Krone. Ihre Augenringe hatten sich über die letzten Tage in ihren Gesichtszügen verankert. Seitdem sie darauf bestanden hatte, ihre Betreuerin zu unterstützen und das Baby mit zu sich aufs Zimmer zu nehmen.

Das Baby, das sie nun in ihren kahlen Armen schaukelte. Und dabei war Janine selbst noch ein Teenager.

„Du solltest wieder ins Bett gehen. Sonst schläfst du morgen in der Schule ein“, bemängelte ihre Stiefschwester sofort, doch wank Anja gelangweilt ab.

„Wir haben Wochenende. Da kann ich auch tagsüber noch ein paar Minuten Schlaf auflesen“, entgegnete sie und nickte zu dem quengelnden Niklas, „Was will er?“

„Wenn ich das wüsste, wäre ich um einiges schlauer“, murrend schüttelte Janine den Kopf.

Anja glaubte undeutliche Worte zu vernehmen. Sie glaubte, wieder rote Punkte zu erblicken. Sie glaubte, diese besser erkennen zu können und- Plötzlich war alles wieder beim Alten.

„Kannst du mir eine Flasche anrühren? Am besten 90 ml oder so“, erklärte Janine erschöpft. Sie strich über Niklas Schopf. Summte eine fremde Melodie. Wog ihn dabei hin und her.

Anja nickte gähnend.

„Geht klar“, sie drehte sich um und schlich sich die dunkle Treppe hinunter.

Geht klar, war gar kein Ausdruck dafür. Sie war dankbar, dass ihre Stiefschwester ihr den Knirps nicht wieder in die Arme gedrückt hatte. Mittlerweile schien Niklas auf Janine geprägt zu sein. Jeder andere, der ihn auch nur schief von der Seite ansehen wollte, wurde schrill zusammengeschrien. Egal, ob er ihn nun fütterte, wickelte, ihm etwas zum Spielen anbot. Nein, jeder außer Janine bedeutete ohrenbetäubendes Gebrüll.

Und das war etwas, womit Anja nicht klarkam.

Ihre Hand glitt unter ihren Schlafanzug. Sie fand die unebene Haut an ihrer Hüfte. Ihr schiefes Muttermal, wie sie gerne behauptete. Doch wollte sie es am liebsten nur fortkratzen. Es glich einer Erinnerung, einem Versprechen. Es hielt die Vergangenheit lebendig.

Rasch zog Anja ihre Hand weg und trat in die Küche. Die sauberen Flaschen und das Milchpulver warteten bereits auf sie. Genauso wie der Rest.

Sie räumten es schon gar nicht mehr weg.

Verschlafen füllte sie das Wasser in den Topf und versank in Gedanken …

Niklas erinnerte sie an ihre richtige Familie. Vor dem Waisenhaus. Jedes Mal, wenn sie den Knirps ansah, schossen Anja Fragen durch den Kopf. Wie hatten wohl ihre Eltern Anjas Erziehung geplant? Wie lange war ihre Mutter Zuhause geblieben? Oder hatte sich ihr Vater damals um sie gekümmert? Damals … Damals hatte sie noch einen anderen Namen getragen. Damals war sie noch nicht Anja gewesen. Damals hatte sie in einer Stadt gewohnt. Damals hatte ihr Vater noch nichts gesehen. Damals waren sie glücklich gewesen …

Aber all das war, bevor ihr Vater irgendjemanden erkannt hatte. Ihr Vater hatte sich bei der Polizei gemeldet. Sie waren in ein Zeugenschutzprogramm gekommen. Ein Mann im Polizeianzug hatte ihr eingebläut, nicht aufzufallen. Sie hatte sich schweigsam und folgsam verhalten müssen. Sie hatte ihre Freunde verloren. Dann war ihr Onkel verschwunden. Seine Frau deren Kinder folgten. Ihre Großmutter hatte sie aufgesucht. Die alte Frau hatte gefleht, alles noch einmal zu überdenken. Zu fliehen. Sie hatte behauptet, dass das System nicht ausreichen würde. Dass die Individuen im Rechtswesen nicht rechtschaffend wären.

Damals hatte die jüngere Anja nichts von alledem verstanden. Sie hatte ahnungslos zwischen den Erwachsenen hin und hergesehen. Sie hatte sich gefürchtet. Sie hatte ihrer Nana am Ende zugestimmt.

Aber alles Betteln und Bitten half nichts.

Drei Wochen später hatte sie sich Anja genannt. Sie hatte sich einsam und verlassen auf einer fremden Straße wiedergefunden. Hatte Sirenen vernommen. War in einen Wald geflüchtet. Hatte geglaubt, eine Stimme zu hören. Dinge, nein, etwas zu sehen.

Das Wasser vor ihr blubberte fröhlich vor sich hin und gedankenverloren drehte sie den Herd aus. Sie stellte den Topf beiseite. Starrte auf den roten Kreis der Kochplatte, der von ihrer Benutzung sprach. Sie erinnerte sich wieder an diese absurden Augen.

Rote, schwebende Augen hatten sie im Wald gefunden. Sie hatten Anja gemustert. Sie waren verschwunden und später wieder aufgetaucht. Sie hatten sie durch den Wald geführt. Sie hatten sie über Sträucher mit Beeren und einen Fluss stolpern lassen. Sie hatten sie beschützt …

Anja wusste schon lange nicht mehr, warum sie dieser seltsamen Erscheinung gefolgt war. Sie wusste nur noch, dass ihr der Wald wie eine Märchenabbildung erschienen war. Sie hatte sich endlich wieder sicher gefühlt. Eine ungeahnte Last war von ihren Schultern gefallen. Und dann hatten sie diese roten Augen zu dem Waisenhaus gebracht.

Nachdenklich schwenkte sie die Milch mit der einen Hand, während die andere Milchpulver und Topf wegräumte. Ihr Blick glitt an der Spüle vorbei. Raus aus dem Fenster. Raus auf den Wald. Der Wald, den sie als Jane Schnee betrat und den sie als Anja Mill verließ.

Etwas Helles huschte durch die mondverhangene Nacht. Doch war es zu schnell, als dass das Mädchen erkennen konnte, was es war. Sie hatte nur die große Form bemerkt. Aber das war egal. Es war da draußen und ließ sie hier drinnen in Frieden. Es beunruhigte sie nicht.

Denn Anja fürchtete nichts außer einem falschen Lächeln.

Diesmal nahm sie eine andere Treppe nach oben. Seufzend schob sie sich die Stufen hoch. Sie kannte jede knarrende Stufe. Jede Ritze und Delle. Mittlerweile hätte sie sich sogar blind in diesem Haus ausgekannt!

Eine aufgerollte Bandage, die Florian unbedingt über Geländer und Türgriffe wickeln musste, stach grell in der Dunkelheit hervor. Sie wirkte wie ein Wegweiser, der sie zurück zu ihrer Stiefschwester führen wollte. Fort von den Gedanken über ihr vergangenes Leben.

„Doch Sieben – Sieben wird – für alle Zeit – mich an deiner Seite lassen“, sang Janine gerade, als sie reinkam.

Anja zog eine Augenbraue hoch.

„Komischer Text“, murmelte sie und reichte der Älteren die Flasche.

Sofort wanderte diese aufs Fensterbrett. Anja würde nie verstehen, warum man Milch heiß anrühren musste, nur damit sie dann eh wieder abkühlte. Hätte sie ihren zukünftigen Job nicht schon vor einigen Jahren gewählt, so hätte sie sicherlich angestrebt, eine Verbesserung zu entwickeln.

„Hat meine Mama früher gesungen“, gestand Janine leise, „Es ist …“

Das Schweigen war Anja Antwort genug. Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache, ehe sie sich abwandte. Jeder von ihnen hatte seine eigene Geschichte und wenn sie ihre eigene nicht preisgab, wie konnte sie dann die Wahrheit von ihren Stiefgeschwistern verlangen?

„Habe mich nur gewundert, weil ich es nicht kannte. Aber ist auch nicht weiter wichtig“, ihre Augen wanderten zu Niklas, der sich selig in Janines wachsenden Busen verkrochen hatte, „Immerhin beruhigt es den Knirps.“

„Ja“, erleichtert nickte Janine, „Ja.“

Die zweite Antwort klang beinahe liebevoll im Zimmer wider und Anja musste sich abwenden, ehe sie wieder an ihre ehemalige Familie denken musste.

Ihre Mutter hatte mit derselben Tonlage gesprochen.

Rote Augen starrten sie für einen Augenblick an.

Dann waren sie fort.

Anja verzog keine Miene. Stattdessen streckte sie sich genüsslich und lief zur Tür zurück.

„Ich bin so müde, ich glaube, ich sehe gleich noch springende Pinguine“, beharrte sie gähnend, „Du kommst klar?“

„Wird schon“, entgegnete die Ältere lächelnd.

Jedoch erreichte das Lächeln nicht ihre Augen.

Anja zuckte mit den Schultern, als sie zurück in ihr Zimmer ging. Sie konnte sich denken, warum ihre Stiefschwester so reagierte. Immerhin hatte sie die Unsicherheit in deren Gesicht bemerkt. Ein Ausdruck, der sich jedes Mal dort hineinschlich, wenn die roten Augen zu auffällig gewesen waren.

Sie legte ihre Brille beiseite, ehe sie sich mitsamt ihrer Jacke zurück ins Bett verkroch. Dort kuschelte sich ein, bis die kühle Nachtluft nur noch ihr Gesicht liebkosen konnte.

Anja war sich sicher, dass Janine diese roten Augen beschützen wollte. Sie war sich sicher, dass diese roten Augen ihnen wohlgesinnt waren. Sie war sich sicher, dass diese roten Augen auf sie aufpassten.

Und solange das der Fall war, solange sie nichts Böses taten und solange sie nicht bemerkt werden wollten-

Solange würde sie diese roten Augen auch ignorieren.

„Ich sehe nichts“, flüsterte sie wie ein Mantra in die Nacht.

Eine Diele neben ihrem Bett quietschte.

Irritiert öffnete Anja wieder ihre Augen. Sie sah auf. Blickte in zwei leuchtende Rubine, die sich langsam zur Seite neigten.

„Danke.“

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