K: Ein Teller voll Traditionen

„Du musst mit ihr reden!“, verlangte Casper, noch ehe er in der Küche preschte.

„Warum diesmal?“, fragte Janice, während sie die letzten Zutaten in den Tomatensalat warf.

„Deine Schwester hat schon wieder Essen auf die Terrasse gestellt! Das lockt wilde Tiere an!“, aufgebracht trommelte ihr Mann auf dem Tisch herum.

„Es ist Tradition, dass-“

„Tradition dies, Tradition das. Das ist doch alles nur Unfug!“

Janice sah auf. In diese harten Augen, die eh alles nur für dummen Aberglauben abtun würden. Er würde ihr nicht zuhören. Nicht hierbei. Dafür war er zu stur. Genauso wie ihr Vater einst.

Genauso wie ihre Nichte nun …

Sie seufzte: „Ich werde mit ihr reden, in Ordnung?“

„Ich bitte darum!“, wütend wandte sich Casper ab und stolzierte die Treppe hoch. Sie konnte seine Schritte durchs ganze Haus vernehmen. Diese dumpfen Tap-taps, die ins Arbeitszimmer eilten, ehe er die Tür zuknallte.

Er hatte nie gelernt, sich leise zu verhalten.

Janice lauschte noch einen Moment in ihr Elternhaus hinein, dann holte sie einen kleinen Holzteller aus dem Schrank. Es war derselbe, den ihre Mutter früher für die Opfergaben verwendet hatte. Ja. Opfergaben. Denn man stellte kein einfaches Essen raus. Man bereitete einen Dankeszoll vor.

Das würde ihr Mann als Zugezogener nie verstehen.

Stumm befüllte sie den Teller mit drei Leckereien und einer Prise Salz, ehe sie ihn aufs Küchenfensterbrett rausstellte. Sie platzierte ihn genauso achtsam, wie ihre Mutter einst. Nur diesmal müsste sie die Gardine etwas zurechtfummeln, damit Casper nichts-

„Was machst du da?“

Janice ließ sich ihren Schrecken nicht anmerken. Lächelnd wandte sie sich ihrer Nichte zu.

„Da war eine Fliege. Die wollte ich lieber rauslassen, als sie zu töten“, behauptete sie unbekümmert, „Wie war die Schule?“

Jessica rümpfte die Nase. Sie wirkte ungehalten. Genauso wie ihre Schwester Bekki früher. Generell ähnelten sich Mutter und Tochter mehr, als sie wahrhaben wollten …

„Klassenkameraden sind nervig, Lehrer haben einen an der Klatsche und hast du gesehen, dass die alte Schnepfe am anderen Straßenende mehrere Vogelscheuchen aus ihrer Unterwäsche gebastelt hat? Was soll der Sch-“

„Jessi“, belehrend hob Janice eine Augenbraue, „Pass auf, was du sagst.“

Zu ihrer Überraschung hielt das Mädchen wirklich inne. Dann schüttelte der Teenager den Kopf und warf die Schultasche beiseite.

Ja. Sie kam definitiv nach ihrer Mutter.

„Kann ich schon essen? Ich wollt mich nachher noch mit Mag treffen, aber sie muss erst noch irgendein Stiefgeschwisterchen abholen. Hab nicht durchgesehen. Sind zu viele“, Jessica plumpste auf ihren Stuhl und spielte mit dem Serviettenspender herum.

Seufzend nickte Janice. So oft wie sich ihr Mann mit dem Mädchen in die Haare bekam, wäre etwas Abstand wirklich nicht verkehrt.

„Mrs. Pearl bastelt die Puppen nicht aus ihrer Unterwäsche“, erklärte sie leise, während sie ihrer Nichte auftat, „Das sind die alten Pyjamas ihrer Eltern. Sehen komisch aus, ich weiß. Aber es bedeutet, dass sie ihrer gedenkt und uns einlädt, ihr dabei Gesellschaft zu leisten. Verstehst du?“, schlichtend stellte sie einen vollen Teller vor dem Mädchen ab, die sofort nach dem Salz griff, „Es ist eine alte Tradition.“

„Genauso wie Moms Essen-raus-stell-Geschichte?“

„Genauso wie ihre Essen-raus-stell-Geschichte“, bestätigte Janice sofort.

Nachdenklich nickte Jessica und stopfte sich den Mund mit Tomatensalat voll.

Janice machte sich unterdessen daran, das restliche Essen aufzuteilen. Bekkis Portion könnte sie direkt in den Kühlschrank stellen. Vor Mitternacht wäre ihre Schwester nicht Zuhause. Die für sie und Casper ließ sie jedoch draußen stehen. Sie würde ihn in einer halben Stunde zum Essen rufen. Bis dahin sollte er sich wieder beruhigt haben. Dann könnte der Abend doch noch friedlich enden …

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie etwas auf das Fensterbrett sprang. Es wandte sich ihr zu. Starrte sie an. Verneigte sich. Dann riss es hastig die Opfergaben an sich und floh.

Casper würde eine solche Begegnung nie zu schätzen wissen. Er hatte kein Gespür für Übernatürliches.

„Ich bin fertig“, still stellte Jessica ihren Teller neben der Spüle ab.

Er war nicht leer.

„Hast du keinen großen Hunger gehabt?“

„Ich bin spät dran. Notfalls nehm’ ich mir nachher was von den Resten, ‘kay?“

Eigentlich wollte Janice ihre Nichte aufhalten. Bekki hätte es sich gewiss gewünscht. Aber so, wie das Mädchen ihr Essen auf dem Teller verschoben hatte … Es hatte etwas von den alten Traditionen.

„Ist gut“, murmelte sie, als Jessica ihr einen Abschied zurief.

Janice betrachtete nachdenklich die Küchentür. Nun erst wurde ihr bewusst, dass sie den Teenager vorhin gar nicht kommen gehört hatte. Außerdem …

„Drei Bissen Brot, zwei Bissen Gemüse, ein Bissen Käse … und eine Prise Salz in der Mitte …“, zählte sie die Überreste des Tellers auf.

Nein. Das waren keine Überreste eines Abendessens. Das war ein Opferteller! Jessica hatte einen Opferteller hergerichtet! Aber …

Bekki hatte das ihrer Tochter gewiss nicht beigebracht … oder doch?

Gedankenverloren tauschte Janice den Teller mit dem von draußen aus. Es erschien ihr irgendwie abwegig, dass Jessica von den Gebräuchen ihrer Heimat wusste. Sie wohnte ja erst seit wenigen Wochen wieder in Kriegsheim. Davor hatte Bekki das Kind durch die halbe Welt gezerrt! Und außerhalb Kriegsheims diese eigenwilligen Bräuche zu verfolgen, verpasste einem schnell ein ungewolltes Label … Nein. Jessica konnte das nicht von Bekki gelernt haben!

Janice hielt inne. Eigenwillig. Ja. Es wäre ihr als Kind nie in den Sinn gekommen, aber Kriegsheims Bräuche waren eigenwillig! Mrs. Pearls Vogelscheuchen waren der beste Beweis. Dann gab es noch das Lichterfest, an dem die Schatten gefeiert wurden. Die Namen Verstorbener durften nach der Trauerzeit nicht mehr ausgesprochen werden. Wenn ein Kind vor dem zehnten Lebensjahr starb, durfte nicht einmal sein Name am Grab befestigt werden! Und ehe man etwas zu Papier brachte, musste der Stift dreimal in der Hand gedreht und anschließend auf die Schreibunterlage geklopft werden. Sonst würde die Tinte ihren eigenen Willen bekommen.

Wieder huschte ein Schatten aufs Fensterbrett. Wieder verneigte er sich, ehe er das Essen an sich nahm und verschwand.

Ein Lächeln schlich sich auf Janice‘ Züge.

„Janice! Ist das Essen fertig?!“

„Zwei Minuten!“, log sie und holte den Teller ins Haus zurück.

Er war blitzeblank.

Mit geübten Handgriffen wusch sie ihn dennoch ab. Sie stellte ihn zurück zu den anderen. Dachte an Bekki. Dachte an ihre tote Mutter, die ihr und ihrer Schwester das Haus vermacht hatte. Sie erinnerte sich an ihre Kindertage. Als sie mit ihren Eltern hier zu Abend gegessen hatte. Als sie gemeinsam darauf warteten, dass die Opfergaben angenommen wurden.

Selbst ihr Vater hatte dabei herzlich sein können …

„Eigenwillig oder nicht, es brachte uns stets zusammen“, flüsterte sie in die leere Küche.

Sie müsste noch heute Abend mit ihrer Schwester reden. Denn Casper würde diesen Zauber nie verstehen. Aber wenn sie von nun an die Teller wieder aufs Fensterbrett stellen würden, müsste sich keiner aufregen. Und vielleicht, nur vielleicht, würde ihr Mann sich doch noch den alten Traditionen gegenüber öffnen …

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