Es war ein ruhiger Nachmittag. Also: Endlich. Denn nach langem Hin und Her hatten die Zweibeiner doch noch die Wohnungstür gefunden und den Kater selige Ruhe geschenkt. Somit konnte er sich nun genüsslich auf dem Sofa strecken. Er genoss die Sonne. Er genoss die Ruhe. Er genoss den Frieden!
Bis das Surren seine Entspannung raubte.
Minkis Ohren zuckten zum angekippten Fenster. Da! Da war es schon wieder! Gefolgt von einem dumpfen Boing. Das … Er kannte dieses Geräusch!
Mit der Eleganz einer Raubkatze drehte er sich um und fiel vom Polster.
Vor Jahren habe ich mich hier versteckt. Ich habe durch ihn die Welt entdeckt. Ich war so nicht verreckt …
Damals war es mir hier sicher erschienen. Der Turm hat mich vom Sturm geschieden. Er lehrte mir, wieder zu lieben …
Meine Finger gleiten über das Mauerwerk. Steine mit endlosen Rissen – wohlgemerkt. Alles steht kurz vor dem Verfall. Nein. Alles ist bereits am Zerfall!
Draußen toben die Wellen. Sie peitschen gegen den Turm. Sie knallen wie die Schellen. Sie tanzen im Sturm.
Der Leuchtturm stöhnt.
Mein Arm fällt schlapp herab. Ich fühle mich so platt. Ich möchte das Mauerwerk retten! Ich möchte die Risse glätten! Ich möchte ihn ewig hier stehen sehen! Er solle niemals vergehen!
Dabei weiß ich, dass nichts mehr zu machen ist …
Vergebliche Liebesmüh, Vergeblicher Kummer, Vergebliche Hoffnung Macht nur alles schlimmer.
Und draußen toben die Wellen. Sie peitschen gegen den Turm. Sie knallen wie die Schellen. Sie tanzen im Sturm.
Der Kahn ruft.
Mein Magen verkrampft sich. Ich schüttle mich. Die Tränen müssen weg. Sie dienen keinem Zweck. Sie würden nur Sorgen bereiten Und mein falsches Lächeln vereiteln.
Mit zügigen Schritten geht es raus. Alles gut, wir müssen fahren, sofort hinaus. Etwas anderes darf ich nicht sagen. Etwas anderes kann ich nicht wagen.
Nicht während mein Leuchtturm zerbricht. Nicht während verschluckt wird, unser Licht.
Tun sie’s nicht immer noch? Sie lieben ihr Kinde doch! Sie würden ihm nix rauben! Und dennoch …
Dennoch sitzet es zerbrochen dort Und egal, wie tief man bohrt, Gibt es keine Antwort.
Der Schatten der Vergangenheit Hat genug vom Leid. Er kann nicht länger mitanschauen, Wie das Kind im Inner‘n schreit.
Einst wurde es geschlagen. Einst wurde es getreten. Einst … Einst. Einst?
Einst hält doch bis heute an! Deswegen lässt es kein Glück heran! Es glaubt, es würde zu nix taugen. Deswegen ist es dran …
Dran zu schrei’n, Dran zu wein’n Ganz geheim Ganz allein In seiner Pein Daheim …
Der Schatten der Vergangenheit Verscheucht die Besonnenheit Mit verächtlichem Schnauben.
Es ist an der Zeit.
Es ist an der Zeit, zu graben. Es ist an der Zeit, etwas zu sagen. Es ist an der Zeit, Hilfe einzuklagen!
Sanft besäuselt er das Kind, Damit er es für sich gewinnt. Er gibt ihm Wind, Damit es beginnt
Zu sprechen.
Es soll sich rächen!
Das Kind beugt sich weg. Es erkennt keinen Zweck. Es hat kein Vertrauen. Es sieht sich als Dreck.
Es ist an der Zeit, umzulenken. Es ist an der Zeit, umzudenken. Es ist an der Zeit, Bedenken
Zu ertränken!
Das Kind beginnt zu verstehen. So kann es keine Zukunft sehen. Mit Bedauern Will es einige Schritte gehen.
Doch halten Wurzeln es fest! Es darf nicht aufstehen vom Nest! Dieses Nest, das es nicht ziehen lässt!
Mutter hält inne. Vater erhebt die Stimme:
„Es darf nicht stehen. Es darf nicht flehen. Es darf niemals gehen. Wie kommt es auf diese dummen Ideen?!
Das Kind hat fügig zu bleiben! Es hat zu verweilen! Wo soll es sich schon rumtreiben? Warum will es heilen?
Heilen! Ha! Wovon? Dass es sich mal wieder besonn!
Hier ist wie einst: Alles gut. Alles leicht. Alles frei.“
Der Schatten der Vergangenheit Macht sich wütend bereit. Er kann seinen Ohren nicht trauen. Frei nennt sich dieses Kleid?!
Das ist ihm zu dreist! Er knurrt und er reißt! Denn er verheißt:
Den Abschied.
Das Kind senkt die Lider. Es zittern die Glieder. Es sieht nicht auf-
„LAUF!“,
Schreit Der Schatten der Vergangenheit.
Erschrocken hebt es den Blick. Noch hält es ihn für einen Trick. Es muss doch auf-
„LAUF!“,
Erneut schreit Der Schatten der Vergangenheit.
Das Kind erblickt sein eigenes Gesicht. Ein Schatten im Licht. Nein. Sein Schatten im Licht. Die Tränen sieht es nicht-
Nicht mehr.
„Hier ist’s nicht fair. Hier fällt’s uns schwer. Ich wünsche mir so sehr Einen Abschied her.
Für dich. Für mich. Bitte sprich!“
Der Schatten der Vergangenheit Erinnert an das einstige Leid.
Einst … Einst. Einst?
Die Wurzeln hängen schlapp, Sie lassen endlich ab, Sie fallen herab.
Einst war gestern. Einst ist heute.
Vater und Mutter sprechen, Sie wollen ihre Zechen, Sie wollen das Kinde brechen …
Aber diese Leute, Nein, diese Meute, Bekommt keine Beute!
Mit der Erkenntnis sprießen Flügel empor. Mit der Erkenntnis, die ihm fehlte zuvor. Mit der Erkenntnis trat das Kind hervor. Nein. Kein Kinde mehr. Denn es setzte sich zur Wehr.
Minki wollte es verfluchen! Der Kater hatte dem Geschöpf von Anfang an nicht über den Weg getraut. Es hatte ihn seit jeher besorgt. Er war von dem Winzling so sehr schikaniert worden! Seine Ohren wurden gepeinigt. Seine Nase wurde ausgeräuchert. Sein Schwanz wurde massakriert!
Und endlich wusste er auch warum. Bei diesem Wesen handelte es sich um einen weiteren Zweibeiner. Einem ziemlich dummen Zweibeiner.
Der Kater sprang auf einen niedrigen eckigen Baum. Hier konnte ihn der Winzling nicht erreichen. Hier war er noch sicher vor diesen mickrigen Händen, die ständig nach ihm langten. Sicherlich würde die Frau seines Retters mit ihm schimpfen. Immerhin wusste er, dass er auf den eckigen Bäumen eigentlich nichts zu suchen hatte. Aber wenn Minki die Wahl zwischen ein paar bösen Worten und diesem winzigen Monster von einem Zweibeiner hatte, dann brauchte er nicht lange nachdenken.
Forschend glitten seine Augen über den Kasten, in dem das Wesen hing. Die zwei Beine des Geschöpfs strampelten wild umher, während das Gerüst des Kastens den Körper aufrecht hielt. Die Arme des Felllosen kamen kaum über die Gefängniszelle, in der es festhing. Dennoch streckte es sie fordernd nach dem Kater aus und gab dabei immer dieselben unklaren Laute von sich.