Sobald der Unterricht für beendet erklärt wurde, warf Cindy erleichtert ihr Schulzeug in die Tasche. Das war die reinste Qual gewesen! Hinzu kam, dass die beiden hinter ihr immer noch über die Neue tuschelten. Durch ihre Windaffinität hörte sie jedes Wort! Reichte es nicht mal? Maggie, Maggie, Maggie sagten sie ständig. Dabei war die Wortmeldung der Stillen schon vor drei Stunden gewesen!
Genervt hob sie das Buch auf, das die Öffnung ihrer Tasche verfehlt hatte. Auch das noch. Heute war kein guter Tag. Sie musste sich besser zusammenreißen. Ja. Sonst würde ihr noch ein Unfall passieren. Ruhig bleiben. Ruhig.
Wieder fiel der Name Maggie.
Seufzend schloss Cindy die Augen und atmete kurz durch. Sie hörte, wie der Taschenrechner auf zwei Beinen überlegte, zu den älteren Waisen zu gehen. Immerhin hätte der eine sie die ersten Wochen jeden Tag bis zu ihrem Platz gebracht. Die Elternlosen standen füreinander ein. Wenn jemand aus dem Dorf Hilfe brauchte, war ein guter Draht zu der schrägen Familie stets hilfreich. Irgendwie kamen sie stets mit einem blauen Auge davon oder konnten sogar absurde Alibis liefern.
Eigentlich hatte sie das Waisenhaus nie gekümmert, aber wenn sie nicht mehr unter die Erde zurück wollte … Wenn sie aus der Welt der Macian verschwinden wollte … Moment. Wollte sie das?
In ihren Gedanken vertieft, lief sie fast in die Neue, die vor ihrem Tisch wartete. Still wie eine Statur stand sie dort. Eine Hand lag auf ihrem Halstuch. Die andere grub sich in den Saum ihrer Jacke. Die Finger zitterten leicht.
Huh. Sie zitterte? Damit wirkte sie ja fast wie eine Veteranin von daheim! Vor allem, da ihre Augen im Schatten lagen und ihr Mund sich so anspannte …
Entgegen der Erwartung ihres Vaters hatte Cindy selbst nach zwei Jahren noch Spaß am Unterricht der Hutan. Es hörte sich einfach alles zu ulkig an! So vieles, was sie auf natürlichem Wege verstand, mussten die anderen Kinder erklären können. Also. Richtig erklären. Mit Regeln und Gesetzen und Begründungen und manchmal sogar mit Formeln …
Dabei waren die Sachen doch so klar! Luft konnte nicht nichts sein. Und Wasser machte sich halt breiter, wenn es kalt wurde. Das waren simple Fakten für sie. Es war als würde man sie nach der Farbe ihrer Kleidung oder das Geräusch der Kreide an der Tafel fragen. Wieso sollte sie es also erklären?
Vielleicht hatte ihr Vater so gehofft, dass Cindy eine Welt ohne Magie bald langweilen würde. Dann könnte er sie wieder mit offenen Armen begrüßen und unter die Erde ziehen. So müsste er nichts gegen ihre Windaffinität unternehmen. Lucy müsste die Dominanz übernehmen. Sie würden in eine Ausbildung gequetscht werden. In ein fremdes Leben.
Nein. Lieber würde sie die dunklen Flecken in der Hutanwelt akzeptieren! Dann gäbe es eben Hausaufgaben, Vorträge, genervte Lehrer. Alles im Leben hatte eine Schattenseite. Und wenn Cindy eben die albernen Erklärungen lernen musste, um hier reinzupassen – so sei es drum! Das hier war immerhin ein Stück wahre Freiheit: Sie musste sich nicht mehr den ganzen Tag wie ein Brett benehmen. Sie durfte lachen. Weinen. Ja, Lucy beschwerte sich nicht einmal mehr, wenn sie die Zunge rausstreckte oder eine Schnute zog!
Cindy Lucy war fünf, als ihre Großmutter sie das erste Mal an die Oberfläche führte. Zuvor war die Welt über ihr nur ein Mythos gewesen. Eine weitere Etage in einem Anwesen, das sich fast gänzlich unter der Erde versteckte. Dass der Himmel nicht nur ein Bild an einer Zimmerdecke war, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Bis sie hoch gebracht wurde, um das erste Mal reine Luft zu berühren. Ein Macian brauchte diese Berührung, wurde ihr gesagt. Damit sie den Wind spürten. Damit sie ihn bändigen konnten. Damit sie seine Wildheit verstanden.
Begeistert drehte Cindy sich im Kreis.
„Die Sonne ist so warm“, verlor sie ihre Worte in die Welt – denn heute echoten sie nicht zurück.
Kevin Strauss ließ seinen Chef still gewähren, als dieser den nächsten Kunden übernahm, der in ihre Filiale marschierte. Eigentlich hätte Kevin ihm helfen müssen, aber ein einziger Blick des gepflegten Fremden hatte jedes Vorhaben im Keim erstickt. Die Abscheu war Kevin aus den blauen Augen geradezu entgegengesprungen und so zog er sich lieber zurück.
Er wusste, dass er nicht der ansehnlichste Zeitgenosse war. Als Bankangestellter von Brooks ‘n Coal aus der Hauptstadt Centy sollte er zwar ein ordentliches Erscheinungsbild an den Tag legen, doch wäre es einfacher, einen Löwen zu frisieren. Seine Haare glänzten mit jeder Dusche fettiger und seine Akne war ein Dämonenwerk für sich. Obwohl er bereits Mitte dreißig war, wollten die Pickel einfach nicht verschwinden! Zusätzlich dazu wirkte er in seinem Anzug eher wie ein formloser Kleiderständer und nicht wie ein menschliches Wesen. Selbst ein Blinder hätte erkannt, dass er hier nicht reinpasste!
Nachdenklich schielte er hinter sich aus dem Fenster des dritten Stockwerks und beobachtete einen umherfliegenden Vogel. Er war schwarz. Vielleicht eine Krähe? Das war selten zu dieser Jahreszeit. Sonst konnte er nur Möwen beobachten, die über dem glitzernden Fluss flogen. Die frei waren.
Tun sie’s nicht immer noch? Sie lieben ihr Kinde doch! Sie würden ihm nix rauben! Und dennoch …
Dennoch sitzet es zerbrochen dort Und egal, wie tief man bohrt, Gibt es keine Antwort.
Der Schatten der Vergangenheit Hat genug vom Leid. Er kann nicht länger mitanschauen, Wie das Kind im Inner‘n schreit.
Einst wurde es geschlagen. Einst wurde es getreten. Einst … Einst. Einst?
Einst hält doch bis heute an! Deswegen lässt es kein Glück heran! Es glaubt, es würde zu nix taugen. Deswegen ist es dran …
Dran zu schrei’n, Dran zu wein’n Ganz geheim Ganz allein In seiner Pein Daheim …
Der Schatten der Vergangenheit Verscheucht die Besonnenheit Mit verächtlichem Schnauben.
Es ist an der Zeit.
Es ist an der Zeit, zu graben. Es ist an der Zeit, etwas zu sagen. Es ist an der Zeit, Hilfe einzuklagen!
Sanft besäuselt er das Kind, Damit er es für sich gewinnt. Er gibt ihm Wind, Damit es beginnt
Zu sprechen.
Es soll sich rächen!
Das Kind beugt sich weg. Es erkennt keinen Zweck. Es hat kein Vertrauen. Es sieht sich als Dreck.
Es ist an der Zeit, umzulenken. Es ist an der Zeit, umzudenken. Es ist an der Zeit, Bedenken
Zu ertränken!
Das Kind beginnt zu verstehen. So kann es keine Zukunft sehen. Mit Bedauern Will es einige Schritte gehen.
Doch halten Wurzeln es fest! Es darf nicht aufstehen vom Nest! Dieses Nest, das es nicht ziehen lässt!
Mutter hält inne. Vater erhebt die Stimme:
„Es darf nicht stehen. Es darf nicht flehen. Es darf niemals gehen. Wie kommt es auf diese dummen Ideen?!
Das Kind hat fügig zu bleiben! Es hat zu verweilen! Wo soll es sich schon rumtreiben? Warum will es heilen?
Heilen! Ha! Wovon? Dass es sich mal wieder besonn!
Hier ist wie einst: Alles gut. Alles leicht. Alles frei.“
Der Schatten der Vergangenheit Macht sich wütend bereit. Er kann seinen Ohren nicht trauen. Frei nennt sich dieses Kleid?!
Das ist ihm zu dreist! Er knurrt und er reißt! Denn er verheißt:
Den Abschied.
Das Kind senkt die Lider. Es zittern die Glieder. Es sieht nicht auf-
„LAUF!“,
Schreit Der Schatten der Vergangenheit.
Erschrocken hebt es den Blick. Noch hält es ihn für einen Trick. Es muss doch auf-
„LAUF!“,
Erneut schreit Der Schatten der Vergangenheit.
Das Kind erblickt sein eigenes Gesicht. Ein Schatten im Licht. Nein. Sein Schatten im Licht. Die Tränen sieht es nicht-
Nicht mehr.
„Hier ist’s nicht fair. Hier fällt’s uns schwer. Ich wünsche mir so sehr Einen Abschied her.
Für dich. Für mich. Bitte sprich!“
Der Schatten der Vergangenheit Erinnert an das einstige Leid.
Einst … Einst. Einst?
Die Wurzeln hängen schlapp, Sie lassen endlich ab, Sie fallen herab.
Einst war gestern. Einst ist heute.
Vater und Mutter sprechen, Sie wollen ihre Zechen, Sie wollen das Kinde brechen …
Aber diese Leute, Nein, diese Meute, Bekommt keine Beute!
Mit der Erkenntnis sprießen Flügel empor. Mit der Erkenntnis, die ihm fehlte zuvor. Mit der Erkenntnis trat das Kind hervor. Nein. Kein Kinde mehr. Denn es setzte sich zur Wehr.